Viktor Eduard Prieb - Literatur
Poesie
Aus meinem im Jahre 2017 verlegten poetischen Sammelband
„Was gereimt werden muss“ (143 Seiten) ISBN 978-620-2-44365-4

Das Zauntürchen – eine philosophische Begegnung


Ein Mensch kann nicht nur mit Erinnerungen an seine Vergangenheit leben. Die Gegenwart beherrscht unser Bewusst¬sein mit so einer unermesslichen Aufdringlichkeit und belastet uns so mit Sorgen über die Zukunft, dass die Vergangenheit immer weiter verdrängt wird.

Trotz alledem treffen uns manchmal Zufälle, bei denen irgendein Ereignis oder sogar irgendein Gegenstand diese Ver¬gangenheit ganz plötzlich wie ein aus den Gedächt¬nistiefen gelichteter Anker heraufholt.

Einst geriet ich gelegentlich in ein weit entferntes und ganz stilles Dorf in einer mir unbekannten Gegend, wo ich bisher nie war, nie beabsichtigte zu sein und bestimmt nie mehr sein werde. Und dort, an einem steilen Flussufer, stieß ich an ein bemoostes, aus dem irgendwann da gewesenen Hof führendes hölzernes Zauntürchen. Der dazugehörende Lattenzaun um das Zauntürchen herum gab es anscheinend schon lange nicht mehr. Das machte das Erscheinungsbild dieses Zauntürchens noch widersinniger!

Seine Gestalt bedrückte mich durch das Alter, die Einsamkeit und die Schwermut. Im Wirrwarr meines Alltags blieb ich plötzlich verblüfft vor diesem Zauntürchen stehen! Wie viele Jahre und Ereignisse benötigte man zu erleben, die so oder anderswie sein Leben beeinflussten? Wie viele Wege sollte man hinter sich zurücklassen, um sich mit ihm in diesem verwilderten Hof am steilen Ufer zu treffen? Unwill¬kürlich beginnen diese Jahre und Ereignisse, an die zu denken es sonst gar keine Zeit gab, vor Augen durchzulaufen.

Wir fingen wahrscheinlich zur gleichen Zeit unser Kreisen an, das Zauntürchen um seinen Pfosten und ich in einer breiten Spirale meines Schicksals, die mich letztendlich zu diesem Zauntürchen geführt hat. Mit vielen Windungen kreiste meine Spirale. Mit jeder Windung beschleunigte sich das Kreisen, als ob sich der Faden meines Schicksals um denselben Pfosten herumwickelte, an dem das Zauntürchen hing und sich um ihn herumschlug.

Und nun endlich diese Kollision mit ihm, wie die Rückkehr zum Beginn aller Beginne! Zu einem Ausgangspunkt, der durch den Raum und durch die Zeit unbeeinflusst bleibt. Die Zeit fließt an ihm einfach vorbei und markiert von diesem Punkt aus ihren Lauf, den auch ich durchlebte.

Viele flüchtige Berührungen fühlte das Zauntürchen in diesen langen Jahren. Und manchmal lehnten sich Menschen mit aller Schwerkraft an das Zauntürchen. Menschen, die mit ihrem Unglück und ihren Sorgen an diesen Uferabhang gelangten. Und das Zauntürchen teilte mit ihnen ihre Schwere, immer mehr herabhängend und immer mehr bemoost. Teilte, um all menschliches Unheil durch knarrendes Heulen seiner Angeln jetzt auf meine Seele auszuschütten.

Verfallen und bemoost steht das Zauntürchen jetzt am Rande des vor den Frühlingsrasereien des Flusses immer weiter weichenden Ufers. Un-ermüdlich schaukelt sich das Zauntürchen hin und her um den einzigen geblie¬benen Pfosten, immer und immer wieder den beharrlichen Fluss-wind in den seit langem durch Unkraut bewältigten Hof he¬reinlassend. Schon lange fehlt der zweite Pfosten, der diese end¬lose Unruhe des Zauntürchens hätte aufnehmen und dem Zauntürchen dadurch wenigs-tens eine kurze Ruhepause schenken können.

Wie viele Jahre noch schaukelt das Zauntürchen hier? Wie viele Jahre noch winkt dieses verabschiedend dem Fluss zu, der einen scharfen Bogen unter seinem Uferabhang macht? Und wie viele Jahre werden noch ver¬gehen, bis der auf dem Hof bummelnde Wind das Zauntürchen in diese endlo¬sen grauen Wellen hinunter umstößt? Wo schwimmt das Zauntürchen hin, seiner einzigen Stütze beraubt?

Wo schaukelt das einsame Türchen, das aus meiner durch Unkraut bewachsenen Vergangenheit in meine wellen¬reiche Zukunft führt? In welche Ferne treiben mich die unermüd¬lich herumschlagenden Wellen der scheinbaren Stille? Oder habe ich dieses Türchen und diese Stille bereits gefunden?

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