Silvester Peripetien eine tragikomische Geschichte aus der Abteilung für Metallphysik des Sibirischen Physikalisch-Technischen Instituts (SPTI) Januar 1982, Tomsk Der Redakteur der Wandzeitung unserer Abteilung beauftragte mich als schreibendes Mitglied der Redaktion, für die Neujahrs-Ausgabe der Zeitung eine humoristische Geschichte zu schreiben. "Die Ausgabe muss morgen erscheinen." – teilte er mir mit, und ich konnte dabei gar keinen Humor in seinem Ton vernehmen. Ich selbst, gestresst durch übliche Scherereien mit dem Verfassen des am Ende jeden Jahres fälligen Jah-resbericht über meine Forschungsergebnisse, war auch nicht in meiner besten Stimmung. Jeder in der Abteilung war aus denselben Gründen auch in dieser Stimmung. Offenbar musste deswegen also eine humoris-tische Geschichte her. Ich verstand es und widersetzte mich voll pflicht-bewusst nicht. Es blieb nur, einen Anlass zum Lachen zu finden, denn der Humor an sich ist ja zu abstrakt und zu kompliziert. Jetzt sind wir irgendwie näher an Satire oder gar Sarkasmus, wenn wir über etwas mit Humor reden wollen. Nun, man kann dafür auch ein Problem, zum Beispiel unser Buffet als Thema nehmen. Aber das ist schon so ein abgedroschenes Problem und ein Thema weder zum Lachen noch zum Weinen. Oder man wird auf jemanden sauer und sogar so wütend, dass man richtig Galle in Worten versprüht und verspürt. Da gäbe es was zu sa-gen! Vielleicht auf den Redakteur? Gagen zahlt er mir sowieso nicht, und wenn er die Geschichte nicht in die Zeitung stellt, ist es auch seine Sache. Aber auch hier muss all dies mit Neujahrsattributen verbunden werden: Weihnachtsbäume dort, Weihnachtsmänner da, Schneewittchen dazwischen... Und die letzte Nacht vergeht, die Stimmung bessert sich nicht, der Kopf wird immer schwerer durch Mangel am Humor. So, mit schwerem Kopf und völlig unausgeschlafen, ging ich am nächsten Tag zu Arbeit. Die Folgen der schöpferischen Qualen ließen nicht lange auf sich warten. In der Straßenbahn, mich auf den Sitz nie-dergelassen, schlief ich gleich ein. Ewa fünf Stationen nach meinem Institut wachte ich auf, weil mich jemand an der Schulter rüttelte. Es stellte sich als Fahrscheinkontroller heraus. Ich zahlte drei Rubel Strafe, die sich zum Glück aus dem täglichen Mittagsrubel für eine Neujahrs-überraschung für meine Frau angesammelt hatten. Dadurch kam ich na-türlich zu spät zur Arbeit. Und wieder den kreativen Qualen – ich muss-te nun eine Erklärung-Entschuldigung für den Laborleiter über die Gründe meiner Verspätung schreiben. Aber es ist schon einfach, als ob man nach einem Muster schreiben würde: Kinder werden krank, Stra-ßenbahnen fahren nicht und überhaupt ist eine Tante in Kiew wieder gestorben. Während ich schrieb, dann zur Beruhigung eine rauchte, ist der Ar-beitstag voll im Gange, und obwohl morgen schon ein Feiertag ist, hat-ten wir dieses Jahr noch zum letzten Mal zu arbeiten. Ein würdiger Ab-schluss sozusagen. Im Kopf absolut keine Gedanken, und wenn welcher manchmal auftaucht, dann immer derselbe: Wie man dem Redakteur aus dem Weg geht und ihn nicht zufällig trifft. Beide Umstände legen eine Lösung nahe, in den Keller zu gehen und am Elektronenmikroskop noch etwas zu arbeiten. Ich begann damit, die Öldiffusionspumpe voll aufzuheizen, dabei völlig vergessend, die Vorvakuumpumpe vorher einzuschalten. Nach der vorgeschriebene halbe Stunde Wartezeit schaltete ich das Kathoden-glühen und die Hochspannung ein. Erst dann stellte ich fest, es bereits genug für dieses Jahr geleistet und es folgenreich abgeschlossen zu ha-ben. Die Diffusionspumpe auseinanderzunehmen und zu putzen sowie die abgebrannte Kathode zu wechseln, sind bereits die Aufgaben für das nächste Jahr. Aus dem Keller raufkommend, stand ich auf einmal dem Redakteur gegenüber. Er suchte mich gerade. Er redete viel und temperamentvoll, aber das alles hatte wieder wenig mit Humor zu tun. Wir einigten uns darauf, dass die Zeitung vor dem Feierabend aufgehängt wird, in der für mich ein leeres umrahmtes Feld mit Überschrift „Humoristische Ge-schichte“ freigelassen wird, da ich den Titel der Geschichte auch noch nicht hatte. Und in diesen Rahmen werde ich morgen früh selbst das schon zu Hause auf meiner Schreibmaschine getippte Material einkle-ben. Nach der Arbeit, wohl wissend, dass ich mich zu Hause wegen des Vorfeierstrudels nicht ans Schreiben komme, ging ich direkt zum Tele-grafen. Dies ist der einzige Ort, an dem man nachts arbeiten kann, wenn man dies zu Hause nicht tun kann. Es waren viele Leute dort. Alle hat-ten es eilig, ihren entfernten Nächsten zum bevorstehenden Silvester zu gratulieren. Ich dachte sarkastisch: „Nicht nur Briefe, sondern auch die Postkarten zu schreiben, haben Leute schon verlernt.“ und vermerkte sofort: „Aha! Es ist schon nah am Humor. Nur noch die Stimmung ein bisschen erheitern und die Sache wird schon laufen.“ Dadurch beflügelt, begann ich die Umgebung um mich herum zu be-trachten, auf der Suche nach einem Anlass, mein Gemüt aufzuheitern. Der Anlass kam jedoch unerwartet etwa drei Stunden später, als der Saal bereits fast leer war, und zwar in Gestalt eines Polizisten. Es stellte sich heraus, dass meine nach zwei schlaflose Nächte völlig zerknautsch-te Visage den Telefonistinnen verdächtig aufgefallen war und sie leise die Polizei gerufen haben. Durch mehrstündiges Sitzen am Telegrafen gewöhnte ich mich so sehr an die Namen fremder Städte, dass ich das Gefühl für meine räum-liche Lage total verloren hatte. Daher ist die Stimmung schon dadurch stark gestiegen, als ich erfahren habe, dass ich immer noch in meiner Heimatstadt bin und die Polizei meine, heimische ist. Das Gefühl ist be-stimmt jedem wahren Patrioten seiner Stadt bekannt. Sowohl der Sar-kasmus als auch die aufgekommene Stimmung erwiesen sich jedoch als nutzlos, da ich zur Klärung meiner Identität abgeholt werden musste und keine Zeit mehr hatte, die Geschichte in den dafür vorgesehenen Rahmen einzubringen, auch wenn sie schon fertig gewesen wäre. Meine Identität wurde festgestellt, alsbald der neue letzte Arbeitstag dieses Jahres begann. Es war wirklich ich und alles wurde zu meiner Zufriedenheit geklärt. Die Polizisten waren mir gegenüber besonders wohlbesonnen, nachdem sie sich über meine wahre Geschichte herzhaft amüsiert hatten, als ich ihnen diese als Erklärung meines verdächtigen Aufenthalts am Telegrafen geschildert hatte, und ließen mich ohne Wei-teres laufen. Ich ging zur Arbeit nicht, fühlend mich nicht ganz fit, und dachte, dass meine Entschuldigung für dieses Arbeitsversäumnis eine weitere kreative Aufgabe für das neue Arbeitsjahr wäre. „Nun gut.“ – beruhigte ich mich – „Immerhin ein klar definierter Beginn!“ Als ich nach Hause kam, fand ich einen Zettel von meiner Frau, aus dem ich erfuhr, dass es ihr leider auch am Humor fehlte. Gleichzeitig wurde mir klar, dass sie heute nicht zu Hause sein und ohne mich den Silvester feiern würde. Vor Frust schlief ich ein und wachte schließlich erleichtert schon im neuen Jahr auf. Das erste, was ich sah, als ich am 2. Januar zur Arbeit kam, war die Menge von Mitarbeitern, die über den Witz mit einem leeren Rahmen unter der Überschrift „Humoristische Geschichte“ laut lachte. Erfreut darüber, dass alle Leute in der Abteilung so viel gesunden Sinn für Hu-mor aufweisen, aber mich als der Beteiligte wie ein etwas nackter König fühlend, der in diesen "Witz" verwickelt war, schlich ich in den Keller und begann, die Diffusionspumpe zu reinigen. "Freiberuflicher Komiker" |