Viktor Eduard Prieb - Literatur
Poesie

Das Vorwort aus meinem im Jahre 2024 verlegten Poesiesammelband (hier als PDF-Datei):
"Die erhabene Sprache der Liebe".



Kritik der Moderne

Ich denke nie ohne zu dichten
Und dichte nie ohne zu denken.
Friedrich Rückert (Reimer, 1788- 1866)

Die Dekadenz der Moderne

Neulich bin ich auf ein Büchlein gestoßen, ein Essay von Ben Lerner, selbst ein US-amerikanischer Schriftsteller und Autor von drei Gedichtbänden, "Warum hassen wir die Lyrik?" (Suhrkamp Verlag Berlin, 2021, Originalausgabe mit dem Titel "The Hatred of Poetry" (Der Hass auf die Poesie) in New York 2016). Allein der Titel hat mich verwundert und empört.

Mich empörte das "Wir", das allerdings genauso wie das "Warum", was eine Erklärung auf die im Original nicht gestellte Frage impliziert, nur in dieser will-kürlichen deutschen Übersetzung als ein Beispiel des bei jeder Übersetzungsart unzulässigen Eingriffs ins Original vorkommt.

Wenn ich dieses "Wir" in den rechtsradikal-aggressiven Hassparolen wie "Wir sind das Volk!" höre oder so wie hier lese, fühle ich mich diskriminiert. Wenn sie das Volk sind oder die Poesie hassen, wer bin ich dann, wer weder rechtsradikal ist, noch die Poesie hasst, sondern von ihr begeistert ist, sie liebt und für das die Poesie liebende Volk kreiert, zu dem diese "Wir" eindeutig nicht gehören?

Noch willkürlicher und weit über den Sinn des Originaltitels hinausgehend ist die Übersetzung von "poetry" im Original als "die Lyrik", statt "die Poesie", wel-che die Lyrik nach der aristotelischen Poetik, die Theorie der Poesie, nebst der zwei anderen literarischen Gattungen, der Epik und der Dramatik, nur als ein Be-standteil beinhaltet. Das aristotelische Verständnis von Poesie und literarischen Gattungen blieb im englischsprachigen Raum bis heute bewahrt und der Autor der betrachteten Broschüre, wenn er "poetry" schreibt, meint auch die Poesie in breiterem Sinne und nicht deren kleinen Bestandteil, die Lyrik.

In der deutschen Sprache wurde der internationale Begriff „Poesie“ seit dem XIX. Jahrhundert nach der Klopstocks Lehre und der Genie-Epoche "Sturm und Drang" praktisch abgeschafft und durch einen speziell deutschen Begriff "Dich-ten" (schaffen, erdenken) ersetzt. Das Dichten wird als ein Schaffensprozess ver-standen, welcher zum Erschaffen von Gedichten führt. Der Begriff schließt außer den klassischen Werken in der gebundenen Sprache der Poesie leider auch die in freien Rhythmen der Moderne abgefassten, strophenlosen und reimlosen Texte mit ein. Das Letztere ist der Notwendigkeit geschuldet, diese Moderne, die weder zur Definition von Poesie noch von Lyrik, aber auch von Prosa nicht passt und eher als eine entsetzliche Verrohung deren ästhetischer, gebundener und erhabener Sprache zu bezeichnen ist, unter eine der Literaturgattungen doch zu bringen. An dieser Stelle würde ich dafür plädieren, eine spezielle Gattung für diese verro-hungssprachlichen Dichtungen der Moderne einschließlich die in heutigen Sozial-netzen herrschenden modernen Dichtungen festzulegen und als "sprachliche Aus-scheidungen" zu bezeichnen.

Seitdem versteht man hierzulande unter dem Begriff "Poesie" nur die poetische Kunst der vorigen Epochen von der Antike über die Renaissance und das Barock bis zu der Aufklärung, was ich als "die klassische Poesie" bezeichne. Der Begriff "Poesie" bezieht sich im klassischen Sinne vor allem auf die in metrischen, rhythmischen, gereimten und in Strophen gegliederten Versen, in der sogenannten gebundenen, über das Alltägliche erhabenen Sprache abgefassten Texte, die unter den Literaturgattungen auch schon mal als "schöne Literatur" betrachtet wurde.

Auch in der deutschen Sprache bleibt der internationale, die zum Spiel der Ly-ra gesungenen dichterischen Werke bezeichnende Begriff „Lyrik“ existent. In der Epoche der Aufklärung gab es kaum Lyrik, da die Lyrik dem Ausdruck von per-sönlichen Gefühlen eines Dichters dient, welche in der die reine Vernunft propa-gierenden Aufklärung verpönt waren. Gegen dieses "vernünftige Verpönen" der Gefühle begehrten die Genie-Dichter von "Sturm und Drang" und vor allem Goe-the auf, welche sich angeblich gegen die klassische Poesie auflehnten und zu Gründern der Moderne zählen.

Ben Lerner meint in seinem Essay unter "poetry" die moderne Dichtungsart, die eigentlich mit der Poesie und schon gar nicht mit der Lyrik zu tun hat, und von mir als "Antipoesie" bezeichnet wird. Der Autor nennt sie zwar nicht direkt, erzählt aber gleich am Anfang, wie er noch in der Schule für die Aufgabe "Ein Gedicht auswendig lernen und vortragen" ganz schlau eins der kürzesten aus der Moderne auswählte und mit seiner Schlauheit doch daneben lag, denn er konnte das Gedicht trotz der Kürze nicht im Gedächtnis festhalten. Seitdem gehört er, selber ein moderner Dichter, zu den Poesiehasser, wie er es fast auf jeder Seite beteuert.

Wo Lerner recht hat, ist es die moderne Dichtung betreffende Tatsache, dass kein Mensch diese in einer von allen Regeln nicht nur der Poesie entbundenen Sprache abgefassten Texte auswendig lernen und im Kopf festhalten kann, woge-gen sich die klassischen poetischen Texte allein durch ihre Melodie und Harmonie fast wie ein Ohrwurm im Kopf festsetzen können.

Trotz meiner Abneigung zur Moderne, die nichts anderes als heutige Dekadenz markiert, fühle ich mich mit meinen konservativen Vorstellungen von der Lyrik schon wieder wie bei "Wir sind das Volk!" bzw. "Wir sind die Dichter!" diskrimi-niert, abgehängt und zurückgeblieben. Ich scheine den Moment des Bruchs mit der klassischen Lyrik in der deutschen Literatur verpasst zu haben, und versuche es nun zurückzuverfolgen.

Man betrachtet Goethe zu Recht als Begründer der modernen deutschen Spra-che, doch die moderne "Dichter" beziehen sich zu Unrecht auf Goethes vielfältige ausdrucksvolle experimentelle Dichtungsformen. Goethe verwendet in seiner Poe-sie und am beeindrucktesten in "Faust" das Zusammenwirken von metrischen Variationen mit der Gemütslage, mit dem Motiv, mit der Situation, um diese zu betonen, zu kolorieren, von dem Benachbarten zu unterscheiden.

Goethes Knittelverse, die eigentlich als eine Mischung von klassischen Metren in einzelnen Verszeilen zu betrachten sind, dienen genau diesem Zweck und wer-den nicht zum Selbstzweck, wie es in der Moderne der Fall ist. Die gebrochenen Metren im Fausts Monolog am Anfang der Tragödie widerspiegeln nicht nur sei-nen aufgewühlten suizidgefährdeten Gemütszustand, sondern auch die Nähe des Teufels als Chaos an sich, mit dem Faust letztendlich den Pakt schließt.

Der Kontrast zwischen der göttlichen Ordnung als absolute Harmonie und dem teuflischen, diese Harmonie zerstörenden Chaos wird von Goethe im Laufe der ganzen Tragödie durch den Wechsel zwischen den wunderschönen harmo-nisch-jambischen Versen und chaotischen Versen mit gebrochenen Metren nicht nur bei Erscheinung von Mephistopheles, sondern allein bei seiner Andeutung und Annäherung unterstrichen und zum Ausdruck gebracht. Auch in seinen Ge-dichten verwendet Goethe seine "Metrum-Bruch-Methode", indem er z. B. einen regnerischen trüben und verdrießlichen Tag in seinem perfekten Jambus schildert und den Höhepunkt dieser Verdrießlichkeit am Ende durch eine Verszeile mit ge-brochenem Jambus erreicht und dem Leser direkt vermittelt!

Goethe zeigt auch in seiner Tragödie wie in der im reimlosen jambischen Pen-tameter gedichtete Szene "Wald und Höhle" z. B., dass die Schönheit eines Ge-dichts allein an seiner metrischen Melodie liegt und nicht unbedingt am Reim. Ich versuchte es in meiner in metrischen reimlosen Verszeilen mit verschiedener unre-gelmäßiger Länge geschriebenen poetischen Novelle "Kiewer Nacht" Nr. 6, S. 336) zu verwenden, um den romantisch-philosophischen Klang der Novelle zu verstärken. Doch am schönsten ist die Kombination von perfektem Metrum und perfektem Reim ohne Verbreime und nur mit wenigen Reimverben wie in Goethes Gedicht "Willkommen und Abschied".

In diesem perfekten Gedicht stellt allerdings der verliebte Goethe nicht nur sein absolutes poetisches Gehör und dichterisches Talent unter Beweis, sondern auch seine philosophische Weisheit. Er erkennt in seinem zarten 22-jährigen Alter, dass das Glück der Liebe nicht nur in "geliebt zu werden" besteht, wie es jeder gerne mag, sondern – und sogar vor allem! – im "lieben" selbst, was viele nicht begreifen:

Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!


Also, der oben geschilderte und von Goethe als ein zusätzliches dichterisches Ausdruckmittel so kunstvoll und meisterhaft eingeführte und eingesetzte Kontrast ist nur durch Abwechslung von harmonischen metrischen Versen und gebroche-nen freien Rhythmen zu erreichen.

Wenn die Modernisten Goethes Knittelverse als ein Aufruf zum Dichten in ei-ner freien ungebundenen Sprache aufgenommen hatten, missverstanden sie Goe-thes Poesie völlig. Der Logik derartigen Abwechselns in Goethes "Faust" folgend, kann man sagen, dass die modernen Dichtungen in der von allen Regeln entbun-denen Verrohungssprache die göttliche Harmonie verneinen und den teuflischen Chaos darstellen und bedienen. Die Folgen dieser kulturellen Verrohung sind in Hasskommentaren in sozialen Medien im Internet zu spüren, obwohl diese alles, einschließlich die Poesie hassenden und nur wie der antike Brandstifter Herostrat nach Selbstverwirklichung suchenden Internet-Hassdichter bestimmt Goethe nicht gelesen haben, vielleicht nur noch die Modernisten, ihre Brandstifter-Brüder im Geiste.

So verstehe ich die Moderne, doch habe immer noch nicht verstanden, wann diese begann und sich zur Mode durchgesetzt hat. Goethes Zeitgenossen wie Schiller und seine gleichgesinnten Dichter von "Sturm und Drang" wie Herder, Bürger, Lessing blieben trotz aller ihren Experimentierfreude immer noch im klassischen Rahmen der gebundenen Sprache. Der letzte Romantiker, Heinrich Heine, bricht bereits in seinem Lied "Die Loreley" (1824) mit metrischen Rhyth-men und bringt den anfänglichen Jambus im Unterschied zu Goethe aus nicht nachvollziehbaren Gründen, womöglich aus mangelndem poetischem Gehör, völ-lig durcheinander.

Der englische Romantiker Shelley (1792-1822), wer durch seine "Faust"-Übersetzung ins Englische von Goethes Dichtungskunst sehr beeindruckt und offensichtlich beeinflusst war, dichtet auch in jambisch-trochäisch gemischten Ver-sen (S. 312),, obwohl in seinen Sonetten wie "Ozymandias" seine perfekte Be-herrschung des jambischen Pentameters aufweist.

Auch moderne englischsprachige Liedermacher schreiben ihre Lieder in klassischen poetischen Metren wie sogar der "King of Rock ’n’ Roll“ Elvis Presley (1935-1977):

Elvis: Love me tender (1970)
(trochäische Tri- und Tetrameter)

Love me tender, love me sweet,
Never let me go.
You have made my life complete
And I love you so.

Love me tender, love me true,
All my dreams fulfill.
For, my darling I love you,
And I always will.

Love me tender, love me dear,
Tell me you are mine.
I'll be yours through all the years,
'Till the end of time.

Love me tender, love me true,
All my dreams fulfill.
For, my darling I love you,
And I always will.
Lieb' mich zärtlich (meine Übersetzung 2022)
(trochäische Tri- und Tetrameter)

Lieb' mich zärtlich, lieb' mich nett,
Lass mich niemals geh'n.
Du machst Leben mir komplett,
Und ich lieb' dich schön.

Lieb' mich zärtlich, lieb' mich echt,
Alle Träume füll',
Denn, mein Liebling, ich lieb‘ recht
Und wird's immer fühl'n.

Lieb' mich zärtlich, lieb' mich Maid,
Sag' mir, du bist meins.
Durch die Jahre aller Zeit
Bin ich ewig dein.

Lieb' mich zärtlich, lieb' mich echt,
Alle Träume füll'.
Denn, mein Liebling, ich lieb' recht
Und werd’s immer fühl'n.

Ebenso wenig waren dieser Mode verfallen die späteren bekannten deutschen Dichter wie Kurt Tucholsky (1890-1935) mit seinem gepflegten Jambus z. B. im Gedicht "Letzte Fahrt".

Die zeitgenössischen Dichter wie der Georg-Büchner-Preisträger Jan Wagner taumeln irgendwo zwischen dem klassischen metrischen Versaufbau und der modernen Entbundenheit:

herbstvillanelle (jan wagner)

den tagen geht das licht aus (jambischer Trimeter)
und eine stunde dauert zehn minuten. (jamb. Pentameter)
die bäume spielten ihre letzten farben. (jambi. Pentameter)

am himmel wechselt man die bühnenbilder (jamb. Pentameter)
zu rasch für das kleine drama in jedem von uns: (Mix-Pentameter)
den tagen geht das licht aus. (jamb. Trimeter)

dein grauer mantel trennt dich von der luft, (jamb. Pentameter)
ein passepartout für einen satz wie diesen: (jamb. Pentameter)
die bäume spielten ihre letzten farben. (jamb. Pentameter)

eisblaue fenster - auf den wetterkarten (jamb. Pentameter)
der fernsehgeräte die daumenabdrücke der tiefs. (Mix-Pentameter)
den tagen geht das licht aus, (jamb. Trimeter)

dem leeren park, dem teich: die enten warden (jamb. Pentameter)
an unsichtbaren fäden aufgerollt. (jamb. Pentameter)
die bäume spielten ihre letzten farben. (jamb. Pentameter)

und einer, der sich mit drei sonnenblumen (jamb. Pentameter)
ins dunkel tastet, drei schwarzen punkten auf gelb: (Mix-Pentameter)
den tagen geht das licht aus. (jamb. Trimeter)
die bäume spielten ihre letzten farben. (jamb. Pentameter)
In diesen reimlosen Verszeilen ist das klassische jambische Metrum (Tri- und Pentameter) deutlich zu erkennen und die dadurch entstehende herbstlich melan-cholische Melodie zu erspüren. Das jambische Metrum ist allerdings an drei von mir unterstrichenen Stellen verzerrt. Man könnte es mühelos zurück zu Jamben korrigieren. Doch Wagner, wer das poetische, wenn auch kein absolute Gehör aufweist, tut das anscheinend absichtlich nicht. Wahrscheinlich ist es ein Versuch zusammen mit Kleinbuchstaben trotz allen Rechtschreibregeln (selbst mein Com-puter spielte wie ich auch verrückt und drohte abzustürzen) den erhabenen lyri-schen Klang extra zur Moderne zu entstellen und auf der Bestsellerliste einen bes-seren Platz zu ergattern.

Wagner behauptet seine poetischen Ideen überall in alltäglichen Dingen wie in einem Steinchen, einem abgebrochenen Zweiglein usä. zu finden. So ein Glücks-pilz! Diese Ideen notiert er und setzt schließlich, so einmal in der Woche, zu einem Gedicht zusammen. Was für eine beneidenswerte poetische Gabe, die Lyrik mit solchen einschlägigen Gefühlen zu füttern!

Meine Lyrik entstand immer in Zyklen durch stürmische leidenschaftliche Ge-fühle in meiner Brust und zwischen den Zyklen herrschte ein dichterischer Still-stand. Irgendwann (2011) fand ich solche Vorgehensweise unseriös für einen "professionellen" Dichter (was dies auch immer bedeuten mag), zu dem ich als Gelegenheitsdichter und Laie werden wollte, und entschloss mich, jeden Tag ein Gedicht zu kreieren. Den Anstoß gab mir dazu die Nachricht über das Jubiläum eines meiner Ex-Kommilitonen, den ich mit einem Gedicht gratulieren wollte. Mit meiner Erfahrung mit den "seelischen Stürmen" war ich eigentlich von meiner Un-fähigkeit überzeugt, die "Auftragsgedichte herauszupressen", obwohl ich meine Liebsten und Nächsten immer wieder mit Anlassgedichten bescherte (S. 152). So musste ich mich einige Zeit bemühen durch Erinnerungen und ein Foto an unsere gemeinsame Jugend den seelischen Drang aufzubauen.

Schließlich gelang mir ein nettes und sogar philosophisch anmutendes Gedicht "Wohin führt der Pfad" (S. 183). Ich dachte mir: "Na also, geht's doch!" – und begann mit der Verwirklichung meines Vorhabens mit einem Gedicht am Tag. Jeden ganzen Tag lief ich unter diesem Zwang umher auf der verzweifelten Suche nach meine "Steinchen und abgebrochenen Zweiglein" als alltägliche Inspirations-objekte und konnte sie nicht finden. Am Ende des Tages schaffte ich es doch ein anständiges und sogar gefühlsvolles Gedicht zu gebären, wobei mir die gleiche Methode half, die letzten stürmischen Gefühle mit Hilfe von Musik und Fotos ins emotionale Leben zu rufen und Gedichte wie in der Reihe "Nachklänge" (S. 131) abzufassen.

So entstanden etwa 30 Gedichte im Oktober 2011, wobei am Ende des Monats ein paar wenig romantisch-lyrische, sondern eher sarkastisch-publizistische Ge-dichte wie "Die Altersalbträume" (S. 228), Schul-Denkriese (S. 233) zustande kamen. Dann war es aber endgültig Schluss damit. Keine einzige poetische Idee fiel mir mehr ein!

Das war sehr enttäuschend für mich und ich verstand in diesem Moment bes-ser die Dichter, die sich wie Shakespeare (S. 290) bei solchen Krisen mit Drogen oder mit Alkohol wie "Poeten" von A. Block (S. 252) zu pushen versuchen. Für meine seelischen Stürme war es nie eine Alternative – meine Droge war immer die Liebe!

Ich fand einen schlauen Weg, meine Liebe zur Poesie und meinen Drang zu dichten anderweitig zu stillen, und entschied mich, die in Mengen vorhandenen Ideen von anderen Poeten zum Dichten zu benutze. Im Jahre 2012 begann ich an mit dem Übersetzen von Goethes "Faust" (Nr. 5, S. 336), von Puschkins "Onegin" (Nr. 4, S. 336) und von poetischen Werken von anderen Dichtern (S. 242).

Dadurch lernte ich eine Menge von der Poesie und entwickelte schließlich (2019) meine eigene "Übersetzenslehre" (Nr. 11, S. 336). Eine der Schlussfolge-rungen meiner Lehre besteht darin, dass das Übersetzen von Modernisten für den Austausch zwischen den Kulturen keinen Sinn und Wert hat, denn die Dekadenz muss man nicht austauschen.

Genauso wenig haben meines Erachtens mit der Poesie und mit der Kultur die sprachlichen Ausscheidungen von renommierten Autoren wie "das Gedicht" von dem Literaturnobelpreisträger Günther Grass (2012). Nach welchen Kriterien be-zeichnet Grass sein publizistisches Zeug als Gedicht? Meine empörte Reaktion darauf habe ich in meinem Gedicht "Was gereimt werden muss" (S. 223) darge-legt.

Im russischsprachigen Raum, wo Puschkin wie Goethe in Deutschland als Gründer der modernen russischen Sprache und Poesie gilt, wird die klassische Poesie und die Lyrik nach Puschkins (S. 2423) und bis zur Gegenwart (Nr. 2, S. 336) hochgehalten und gewürdigt. Und dies zum Trotz allen Kataklysmen des XX. Jahrhunderts wie die Revolution, der Bürgerkrieg und der Kommunismus sowie den damit verbundenen Versuche, die Poesie zu modernisieren und zu pro-letarisieren. Leider hat es die russische Sprache von der Verrohung nicht gerettet: Diese ist von Puschkins erhabener Sprache zunächst zur sowjetischen Proleten-sprache und schließlich zu Putins Gaunersprache degradiert, in der es wie in der Moderne auch keinen Platz für die Liebe und für die Lyrik gibt.

Ben Lerner wirft in seinem Essay diverse Themen auf, ohne diese vernünftig auszudiskutieren und aufzuklären, wie das über die Veröffentlichung von Gedich-ten als Nachweis dazu, dass man Dichter sei:

"Und wenn man töricht genug ist, sich als Dichterin zu erkennen zu geben, wird der Gesprächspartner oft fragen: Werden Sie denn auch veröffentlicht?".

Die Frage ist irgendwie berechtigt, denn wie sonst kann ein Dichter nachweisen, dass er einer sei. Es gibt ja kein Dichterstudium mit einem "Dipl.-Dichter"- oder "Master of Poetry"-Abschluss, den man als Nachweis vorlegen könnte.

Doch eine Veröffentlichung ist nach meiner Erfahrung mit heutigen Verlagen noch weniger ein Nachweis für "Master of Poetry" als gar keiner. Diese naive Einstellung und Vertrauen an das Autorität von Verlegern, die ich bis zu dieser Erfahrung auch pflegte, ist auf die alten Geschichten über Verleger als erfahrene Geschäftsleute und Literaturkenner mit feiner Spürnase für die neuen vielverspre-chenden Literaturwerke. Sie lasen selbst die in ihr Haus hineingeflatterten Manu-skripte durch und wussten gleich, welche gefragt und gut verkauft werden kön-nen. Sie haben Hemingway und viele andere Autoren entdeckt, auf eigenes Risiko veröffentlicht und auch noch Vorschüsse an die ausgewählten Autoren bezahlt. Das war für Autoren wirklich die höchste Anerkennung und Nachweis!

Diese Einstellung entstand bei mir z. B. unter allem durch den Kurzroman von Capote "Frühstück bei Tiffany" aus dem Jahre 1958, wo der junge Schriftsteller Paul Varjak für seine an einen Verleger geschickte Erzählung gleich einen 50-Dollar-Scheck erhielt. Ach die guten alten Zeiten! Man wird gleich nostalgisch an-gesichts der heutigen Realitäten im Verlagswesen.

Heute wird alles gegen eine vom Autor zu entrichtete und Kostendeckende Vorzahlung ohne Lektüre von einer "Spürnase" veröffentlicht. So kann sich jeder den Schriftsteller- bzw. Dichter-Titel als der gefragte Nachweis erkaufen. Dieser ist aber unter solchen Umständen weder als eine Anerkennung noch als ein Nachweis für irgendetwas absolut wertlos.

Den Nachweis für die Entwertung so eines Titels und die Absturztiefe der „Dichter und Denker“ in unserem Lande durch solche Verlegerpolitik findet man allerdings leicht, wenn man zum Beispiel die Almanache der Frankfurter Biblio-thek von Frankfurter Literaturverlag durchblättert.

Als ich 2005 mit meinem Roman (Nr. 7, S. 336) fertig war, schrieb ich diesen Verlag sowie einige kleinere Verlage und bot ihnen meinen Roman zum Veröf-fentlichen an. Daraufhin erhielt ich vom Frankfurter Literaturverlag verdächtigt schnell den vorgefertigten Vertrag zum Unterschreiben, in dem Veröffentli-chungskosten von 17 Tsd. Euro beziffert wurden, die ich im Voraus zu leisten hatte!

"Verdächtigt schnell" war es für mich, weil es nicht genug Zeit dafür gab, mein Manuskript wenigstens quer zu lesen und zu bewerten. "Es ist nicht persönliches, es ist rein geschäftlich!", wie Mafiosi es zu sagen pflegen. In so einem Geschäft war ich aber nicht interessiert und reagierte auf das Angebot gar nicht, was den renommierten Vertrag nicht daran hinderte, mir dasselbe Angebot mit demselben Vertragsformular noch einige Jahre immer wieder zuzuschicken.

Ein kleiner privater Verleger (Mauer Verlag Wilfried Kriese) lies anscheinend mein Roman doch durch und wollte ihn unbedingt nur für 1,7 Tsd. Euro veröf-fentlichen. Dem antwortete ich, dass ich das nötige Geld dafür nicht habe. Der Verleger versuchte mit ein paar hundert Euro Rabatt mir entgegen zu kommen und meinte, dass er es ohne meine finanzielle Beteiligung wirtschaftlich nicht schafft! Er schrieb mir auch zwei Jahre lang und schloss mit der Prophezeiung ab: "Wenn Sie Ihren Roman jetzt nicht veröffentlichen, veröffentlichen Sie ihn nie!". Bei dem guten Mann von dem altem "Spürnase"-Schlag verspürte ich einen Hauch von Anerkennung, konnte ihm aber nicht weiterhelfen.

Warum auch? Auch hier habe ich eine ziemlich konservative Einstellung: "Ich habe meine Arbeit getan und biete deren Produkt der Menschheit an. Doch ich bin nicht bereit die Übermittlung meines Produkts an die Menschheit auch noch selbst zu bezahlen, statt für meine Arbeit bezahlt zu werden!" Demzufolge stellte ich meine Manuskripte als Digitalskripte der Menschheit umsonst zur Verfügung auf meiner von mir nicht so teuer bezahlten Webseite www.literatur-viktor-prieb.de. Noch schlimmer war die Erfahrung bei dem Frankfurter Literaturverlag, als ich das im Tandem mit meinem Enkel geschriebene Gedicht "Eine kaputte Flasche, die Welt gerettet hatte" (S. 153) zu dem von diesem Verlag verkündeten jährli-chen bundesweiten Poesie-Wettbewerb schickte. Die Masche des Verlags besteht in diesem Fall darin, dass der Verlag dadurch Tausende von Texten von Möchte-gern-Dichtern und somit auch Tausende von Adressen und persönlichen Daten aufsammelt.

Alle Bewerber, ohne Ausnahme, werden kurz danach ("verdächtigt schnell") schriftlich zu Gewinnern des Wettbewerbs erklärt und bekommen das Angebot, ihre Gedichte in dem Almanach "Klassische Edition der Frankfurter Bibliothek des zeitgenössischen Gedichts" zu veröffentlichen. Das heißt, alle werden zu deut-schen zeitgenössischen Dichtern erklärt, sobald diese neuen Dichter allerdings ei-nen bestimmten, nicht unerheblichen, aber für jeden zu meisternden Betrag be-zahlt haben.

Beim nächsten Schritt erhält jeder von neu gekrönten Dichtern vom Verlag die nächste freudige Nachricht darüber, dass sein Gedicht zu den besten Gedichten des Jahres auserwählt worden sei und in einem Sammelband "Die Lyrik des XXI. Jahrhunderts – Die besten Gedichte des Jahres" veröffentlicht werde, sobald diese "besten Dichter" allerdings wieder einen nicht unerheblichen Betrag bezahlt ha-ben.

Dazu kommt am Ende ein diese Masche entlarvender Satz: "Sie können uns auch ein anderes ihrer Gedichte, statt des Auserwählten zur Veröffentlichung zu-schicken". Übersetzt bedeutet dies: "Es ist uns scheißegal, was du uns zuschickst, wir veröffentlichen alles, solange du es bezahlst!". Und so sieht dann die beste deutsche Lyrik der Jahre 2011/2012 aus:

Die Illusion
von Siri Limberg (*1960)

So wie sie will ich mal nicht enden
Sagtest du
Nun
Irrst du dich durch Zeiten
Wunderst dich
Wenn du in der Realität auftauchst
Das Bemühen
Deine Kraft zu erhalten
Ist schon längst erlahmt
Geblieben
Ist der Zorn
Den du im Kampf darum
Gefühlt und gesät hast
Die Verwirrung
Mit der du ins Leere greifst
Nein
So wie du werde ich mal nicht enden

Was ist das und was gibt's hier zu verstehen, zu fühlen und zu diskutieren oder gar zu hassen? Das sind eben sprachliche Ausscheidungen von schadenfreudiger Genugtuung und Rechthaberei! Das ist nur ein krasses und zufälliges Beispiel der modernen, sogar von Satzzeichen entbundenen Sprache.

Man, was war ich, der gieriger Konservator, darüber froh, die beiden Angebote wieder ignoriert und mit unserem Gedicht nicht auf diesem Mühlhaufen von "aus-erwählten Dichtern" gelandet zu haben. So ist mein Verhältnis zu sprachlichen Ausscheidungen der Moderne und zu jeder Veröffentlichung als Nachweis des ge-kauften Dichter-Titels. Meine zweisprachige Poesie samt meinen anderen prosai-schen und wissenschaftlichen Werken wurde ebenfalls auf meinen eigenen Inter-netseiten ohne offizielle Anerkennung von renommierten korrupten Verlagen ver-öffentlicht.

Doch eines Tages erhielt ich ein Angebot, alles kostenlos bei der deutschen Print-on-Demand-Verlagsgruppe "OmniScriptum Publishing Group" zu verlegen. "Kostenlos" bedeutet hier, dass ich nichts im Voraus zahle, aber mich verpflichte mindestens fünf Exemplare meines Buchs zu kaufen. Mich begeisterte diese sehr demokratische Veröffentlichungsmethode, bei der ich selbst mein ganzes Buch vom Inhalt bis zum Deckel mit Klapptexten und Bildern selbständig gestalte und Verantwortung trage.

Meine eigenen gedruckten Bücher dann zu kaufen und in der Hand zu halten, tue ich dabei besonders gern, denn ich brauchte nie einen Nachweis von Irgend-jemand darüber, dass ich Dichter, Schriftsteller oder Physiker-Wissenschaftler bin. Die Hauptkritik an diese Veröffentlichungsmethode lautet: "Die Bücher wer-den nicht inhaltlich lektoriert" beweist mir nur die mangelnde Selbstsicherheit und Selbstverantwortung von Kritikern, aber vor allem die mangelnde von mir oben geschilderte Erfahrung mit renommierten, "verdächtigt schnell" lektorierenden Verlagen. Ich bezweifle, dass jemand das "Gedicht" von Siri von jemandem je lek-toriert wurde.

Was die Lektoren und Rezensenten aller Art betrifft, kenne ich ihre stilistisch nachweislose, sachlich ahnungslose, die Veröffentlichung in die Länge ziehende und störende Beeinträchtigung von wissenschaftlichen Artikeln zur Genüge und hatte es in meinem Gedicht "Das Kollegenporträt" (S. 57) noch im Jahre 1983 scherzhaft verarbeitet. Ich bin mir sicher, dass kein Lektor so eine lange Einlei-tung zu meinem poetischen Sammelband durchgelassen hätte, die ich aber für besseres Verständnis der Poesie im Allgemeinen und eine empfindsamere Wahr-nehmung meiner Poesie für absolut notwendig halte und selbst darüber entschei-den kann.

Es bleibt bei mir die Frage, wie und wann zu diesem Verramschen der Poesie kam, was ich "die Proletarisierung" und die Dekadenz der Poesie nenne. Die oben geschilderte Verlagsmasche ist nur ein Ergebnis dieses Verramschens, wo ein Verlag als Nutznießer dieser Proletarisierung das Geschäft mit Dichter-Titeln be-treibt. Das Versprechen des allgemeinen Zugangs zu Poesie beinhaltet z. B. das von Ben Lerner in seinem Essay präsentierte Zitat von Allen Grossman, einem der Vertreter wie Ben Lerner selbst auch der dekadenten modernen Dichtung:

"Manche Kinder nehmen Klavierunterricht, manche lernen Stepptanz, aber wir sagen nicht, dass jedes Kind Pianist oder Tänzer ist. Sie sind jedoch ein Dich-ter, ob Sie es wissen oder nicht, denn Teil einer Sprachgemeinschaft zu sein – „überhaupt als „Sie“ gefeiert zu werden“ – bedeutet, mit poetischen Fähigkei-ten ausgestattet zu sein."

So einfach ist das also! Nicht jeder hat das Talent ein Klavierspieler oder ein Stepptänzer zu werden, doch jeder "Prolet" sei automatisch mit poetischen Fä-higkeiten ausgestattet, also sei ein Dichter. Es genügt dafür ein Teil einer Sprach-gemeinschaft zu sein! Die sinnlose Aussage ist darüber hinaus noch untergründig fremdfeindlich, denn sie untersagt allen Einwanderern in eine andere Sprachge-meinschaft jegliche poetische Fähigkeit. Wenn ich die Dichtungen von Lerner und Grossman anschaue, die mit der Lyrik per ihre Definition nichts gemein haben, verstehe ich diese Einladung, ein Dichter wie sie zu werden.

Meine Skepsis darüber teile ich mit dem bekannten russischen Dichter des vo-rigen Jahrhunderts:

"Es muss kaum erklärt werden, dass jede Kunst zwei Seiten hat: eine kreative und eine technische.

Die Fähigkeit zur künstlerischen Kreativität ist ein inhärentes Geschenk wie die Schönheit einer Person oder eine starke Stimme. Diese Fähigkeit kann und sollte entwickelt werden, aber sie kann nicht durch irgendeinen Fleiß, irgendei-ne Lehre erworben werden.

Poetae nascuntur ... (Dichter werden geboren ...). Wer nicht als Dichter gebo-ren wurde, wird nie zu ihm werden, egal wie sehr er danach strebt, egal wie viel Arbeit daran steckt. Jeder, oder fast jeder mit wenigen Ausnahmen kann, wenn er sich genug anstrengt, das Versschmieden lernen und es erreichen, ganz glatte und „schöne“, „klangvolle“ Verse zu schreiben.

Doch solche Gedichte sind nicht immer Poesie. Im Gegenteil, die Technik des Verses kann und muss man lernen. Das Talent des Dichters – das wahre Gold der Poesie – kann auch in rohen, plumpen Gedichten gesehen werden, solche Beispiele sind bekannt. Doch seine Gabe, die Seele des Dichters kann nur der-jenige vollständig ausdrücken, wer die Technik seiner Kunst perfekt be-herrscht.

Der Meister des Verses hat die Formen und Ausdrücke für alles, was er sagen will, verkörpert jeden Gedanken, alle seinen Gefühle in solchen Kombinatio-nen von Wörtern, welche am schnellsten die Resonanz beim Leser finden, schärfer als alle anderen die Aufmerksamkeit erregen, unwillkürlich und für immer im Gedächtnis bleiben. Der Meister des Verses besitzt die Magie der Worte, weiß die Worte zu beschwören und sie dienen ihm wie unterwürfige Geister einem Zauberer."

Brjusov, Valerij (1918). „Experimente zu Metrik und Rhythmus, zu Wohlklang und Konsonanzen, zu Strophen und Formen.“ Vorwort „Das Handwerk eines Dichters“. Einführungsartikel 1912–1918, 87 Seiten)
in meiner Übersetzung aus dem Russischen.

Als Dichter geboren zu sein, bedeutet in meinen Begriffen, mit dem absoluten po-etischen Gehör gesegnet zu sein. Wer etwas anderes behauptet, ist entweder eitel oder korrupt.

Die Behauptungen von den beiden dekadenten Besserwisser über die Diskre-panz zwischen dem perfekten abstrakten inneren Lied und dem konkreten realen Gedicht, welche jedes Gedicht zur Manifestation des Scheiterns eines jeden Dich-ters macht, oder darüber, dass die Poesie nicht nur schwierig, sondern gar un-möglich sei, zeigen nur ihr Scheitern in der Poesie. Sie besitzen einfach kein poeti-sches Gehör. Sie finden in ihren modernen sprachlichen Ausscheidungen keinen Zugang zu Lyrik. Sie scheinen in ihrem Klugscheißen über die Poesie und das Dichtersein, keine Ahnung davon zu haben, wie konkrete Glücks- oder Schmerz-gefühle eines Lyrikers eine rhythmische Melodie in seiner Brust – dort wo sich das Herz und die Seele befinden – gebären. Seine Brust droht unter dem Drang dieser Melodie nach Außen zu zerbersten, wenn er sie als ein schönes harmoni-sches Gedicht nicht herauslässt.

Ein Komponist – der Mensch mit absolutem musikalischem Gehör – schreibt diese nach Außen drängende Melodie in Noten nieder und ein Lyriker – der Mensch mit absolutem poetischem Gehör – schreibt dieselbe Melodie in Worten nieder, in einer gebundenen erhabenen Sprache der Poesie! Und wenn dieser poe-tische "Durchfall" losgeht, stellt ihm sein Unterbewusstsein diese Worte aus sei-nem Wortschatz – vorausgesetzt, der ist im ausreichenden Maß vorhanden – au-tomatisch zur Verfügung. Während er es fieberhaft niederschreibt – was für eine störende Arbeit! –, stauen schon in ihm passenden Reimworte dazu. Dabei sind diese manchmal ohne einen vom Lyriker gewollten oder ungewollten Sinn. Das führt eben fast unwillkürlich zu den poetischen Metaphern und Bildern, statt kre-ative Freiheit des Lyrikers zu beschränken, wie es Moderniste über den Metrum- und Reimzwang der gebundenen poetischen Sprache behaupten.

Die armen poetischen Gehörlosen scheinen den seelisch-poetischen "Durchfall" nie erlebt zu haben bzw. dafür gar nicht fähig zu sein, weil ihre Seelen leer sind und keine durch starke Gefühle geborene Melodie bei ihnen nach Außen drängt. Stattdessen versuchen sie ihre Metaphern und Bilder gekünstelt zu kreieren. Diese stinken dann aber nach "kreativen Schweiß" der Modernisten und kommen bei Lesern nie an. Lerner behauptet es zu Recht selbst. Er erklärt seinen "kreativen Schweiß" durch die Schwere der Poesie und kommt so auf sein Originalthema "Hass auf die Poesie".

Es hat mich verwundert, dass dieser hässliche Begriff in Bezug auf die Poesie überhaupt anwendbar ist. Die Poesie wirkt auf ihre Leser nicht (nur) durch direk-te inhaltliche "moralisierende" Ansprache, sondern durch ihre musikalische und bildhafte Sprache unmittelbar auf die Seelen von Menschen. Vorausgesetzt natür-lich, dass diese Menschen empfindliche und zur Melodie der Poesie affine Seelen aufweisen. Dabei gibt ein so in der Dichterseele geborenes und so zu Papier ge-brachtes Gedicht den Lesern volle Interpretationsfreiheit, sodass der Leser durch seine persönlichen, auf seine eigenen Gefühlserfahrungen bezogenen Empfindun-gen das gelesene poetische Werk aneignet. Wie kann man dann sein eigenes, bzw. zu eigen gemachtes poetisches Werk hassen?

Man kann mit einem poetischen Werk mitfühlen oder auch nicht mitfühlen, es verstehen oder auch nicht verstehen, es ablehnen, aber wie kann man es hassen? Die Poesie belehrt und behauptet ja nichts Konkretes! Die Poesie und die Lyrik insbesondere schildern in ihrer exquisiten Sprache das "Ich" des Dichters, seine menschlichen, den meisten Menschen bekannten Gefühle: Leidenschaft und Sehn-sucht nach Liebe, Liebestrunkenheit und Liebesglück, aber auch Liebeskater und Liebeskummer, Leid, Gram und Schmerz von weltlichem Ausmaß! Das Erstere, das Liebesglücksgefühl, mündet in die allumfassende und grundlose Liebe zu Menschen und zur Menschheit als solche. Der Liebeskummer, das Leid und der weltliche Schmerz schlagen die Liebesgedichte der Lyrik in die für diese eigentlich ungewöhnlichen gesellschaftlich-politischen Gedichte um.

Also, wenn Lerner über die von mir als sprachliche Ausscheidungen definierte Literaturgattung spricht, zu der seine Gedichte wenigstens von ihrer "moderner" dekadenten Form her auch gehören, kann ich das Thema "Hass" noch nachvoll-ziehen, obwohl vom Hass in meinem von der Liebe dominierten Gefühlsspektrum nicht einmal eine Spur existiert. Und das aus gutem Grund. Der Hass ist ein nicht weniger starkes Gefühl als sein Antipode die Liebe. Die beiden sind wie das Böse (Teufel) und das Gute (Gott), die sich im ewigen Kampf befinden. So ein Kampf in der menschlichen Seele verbraucht eine Menge geistiger Energie und zerfrisst schließlich die Seele.

Ich lasse so eine Koexistenz in meiner Seele gar nicht zu. Ich entschied mich schon längst für die Liebe und verbrauche für sie und fürs Besingen der Liebe in meiner Poesie meine ganze Energie, statt diese für sinnlosen Hass zu Irgendetwas zu vergeuden. Falls ich auf ein Subjekt oder ein Objekt stoße, welches totales Un-verständnis und starke Abneigung bei mir erweckt, erkenne ich es nicht, entziehe ihm das Existenzrecht jedenfalls in meinem Geltungsbereich und vergesse es, statt darüber zweifelhafte philosophische Essays zu verfassen. Mein Tipp an alle Has-ser: "Wer liebt, kann nicht hassen und wer hasst, kann nicht lieben!"

Geheimnisse der erhabenen Sprache der Poesie

Zum oben erwähnten Jammer von Modernisten über den harten, ihre Kreativi-tät einschränkenden Rahmen der gebundenen Sprache der klassischen Poesie kann ich nur folgendes erzählen: In meiner bescheidenen sibirischen Dorfschule mussten wir zwar auch wie Lerner viele Gedichte auswendig lernen, aber die Verslehre gar nicht unterrichtet bekamen. So, als ich meine ungestörten Gedichte vierzig Jahre lang auf die oben geschilderte "Durchfall"-Art schrieb, hatte ich zum Glück keine Ahnung von diesen die Kreativität einschränkenden Rahmen der klassischen Poesie.

Erst 2012, als ich mit meinen wissenschaftlich-poetischen Übersetzungen von "Faust" und "Eugen Onegin" begann, musste ich die Verslehre nun selbstständig erlernen. Da habe ich mit Verwunderung entdeckt, dass meine ahnungslosen Ge-dichte von mir streng nach fünf Versmaße, vom Jambus bis zum Amphibrachys, und fünf Metren, vom Di- bis zum Hexameter, geschrieben worden waren. Das auswendige Lernen und die Liebe zu Poesie schienen mein poetisches Gehör so geschärft zu haben, dass ich klassische Gedichte zu kreieren schaffte, ohne die Silben zu zählen und schweißgebadet nach passenden Reime zu suchen!

Entsprechend der metrischen Notation in der Verslehre werden die betonten Silben schematisch mit "—" und die unbetonten mit "◡" Symbolen gekennzeich-net. So versteht man die die Melodie eines Verses bestimmenden Versfüße, auch Metren (in der Musik Takte) genannt, als sich in einer Verszeile wiederholende Elemente. Gerade derartige Taktung verleiht der Poesie ihre für jeden Menschen erkennbare Erhabenheit.

Unter den seit der Antike bekannten Metren sind fünf folgende bis heute am meisten verbreitet.

Zweisilbige:
Jambus ◡—,
Trochäus —◡

und dreisilbige:
Daktylus —◡◡,
Anapäst ◡◡—,
Amphibrachys ◡—◡.

Des Weiteren werden die Verszeilen nach ihre in Metren (Takten) gemessene Länge folgendermaßen unterschieden:
Dimeter (2 Metren),
Trimeter (3 Metren),
Tetrameter (4 Metren),
Pentameter (5 Metren),
Hexameter (6 Metren),
Heptameter (7 Metren).

Ich gehe hier so ins Detail, weil all diese Bezeichnungen in meiner Poesie unter der Überschrift meines jeden Gedichte (am häufigsten der jambische Tetrameter) als Lesehilfe vorkommen. Mit diesem Hinweis weiß jeder Leser gleich, in welchem Rhythmus er das Gedicht lesen bzw. rezitieren soll, um in Genuss seiner Melodie zu kommen. Damit wird ihm auch die Freiheit gegeben die Betonungen, wenn es nötig ist, entsprechend dem vorgegebenen Rhythmus und nicht immer der Recht-schreibung selbstständig richtig zu setzen.

Jede Verszeile beginnt in klassischen Strophen mit Großbuchstaben unabhän-gig davon, ob die vorige Verszeile einen vollständigen mit einem Punkt endeten Satz darstellt. Die Modernisten wie Jan Wagner verzichten auf die Großbuchsta-ben allgemein und nicht nur am Anfang jeder Verszeile, um sich auch von diesem Zwang zu befreien und modern zu erscheinen.

Die klassische Schreibweise macht es auch leichter, die Leistenverse (Akros-ticha) zu kreieren, in denen die großen Anfangsbuchstaben eine auf diese Weise verschlüsselte Botschaft ergeben wie in dem Akrosonett (S. 36) in meinem Sonet-tenkranz (S. 26). Der aus vierzehn Einzelsonetten bestehende Sonettenkranz ist eine komplexe Kunstform der Poesie, bei der die letzte Verszeile jeden Sonetts gleichzeitig die erste Zeile des nächsten Sonetts und die letzte Zeile des letzten So-netts die erste Zeile des ersten Sonetts sind. Die ersten Verszeilen des auf diese Weise zusammengeflochtenen Sonettenkranz bilden schließlich das fünfzehnte so-genannte Meistersonett. Es gibt in der Weltpoesie nur seltene Beispiele für diese Kunstform. Ich habe diese Kunstform noch weiter verkompliziert, indem ich mein Meistersonett zum Akrostichon mit der darin verschlüsselten Widmung verwan-delte. Für so eine herausfordernde Kunstform fand ich gar keine Beispiele.

Die Verszeilen werden nicht nach einem Reimwort unterbrochen, welches auch einen Innenreim, z. B. in den für die Sonette übliche Hexametern mit einer Zäsur in jeder Verszeile nach der sechsten Silbe (Alexandriner), bilden kann, sondern nach dem Metrum, das ohne Unterbrechung gestört wäre. So schrieb ich mein sechshebiges "Das Bronxer Lied" (S. 98) mit glatten Kreuzreimen und konnte nicht gleich verstehen, was mit seinem Rhythmus nicht stimmt, welcher eigentlich der in mir klingenden Melodie entsprang. Die erste Hälfte jeder Verszeile bestand aus einem trochäischen und die zweite auf einmal aus einem jambischen Trimeter. Das Problem mit der nicht vorgesehenen Zäsur in jeder dieser langen Verszeilen ließ sich schließlich durch die Teilung aller Verszeilen leicht lösen, die aus jeder langen Verszeile mit gemischten Metren zwei rein trochäische Verszeilen machte. Durch diese logische Teilung entstand allerdings zufällig ein ungewöhnliches Reimschema mit so etwas wie ein ausgedehnter Kreuzreim mit ungereimten Vers-zeilen dazwischen.

Ein ähnliches Reimschema mit so ausgedehnten Paarreimen findet man bei Goethe in "Faust" in der Rede des alten Bauern in der Szene "Vor dem Tor":
Herr Doktor, das ist schön von Euch,
Daß Ihr uns heute nicht verschmäht,
Und unter dieses Volksgedräng,
Als ein so Hochgelehrter, geht.
So nehmet auch den schönsten Krug,
Den wir mit frischem Trunk gefüllt,
Ich bring ihn zu und wünsche laut,
Daß er nicht nur den Durst Euch stillt:
Hier teilt Goethe jede achthebig lange jambische Verszeile in zwei vierhebigen jambischen Verszeilen mit den derartig ausgedehnten Paarreimen. Diese Teilung ist aber nicht der Notwendigkeit geschuldet, das jambische Metrum zu bewahren. Goethe, als Meister des sprachlichen Porträts, schafft dadurch ein Klang, der ei-nem einfachen, aber weisen Bauern entspricht.

Die Poesie ist zwar die über das Alltägliche erhabene Sprache, besitzt aber auch alle Merkmale einer lebendigen, gesprochenen Sprache mit ausgelassenen (verschluckten) Wortendungen, um den Reim und die Kadenz zu bewahren, und mit verschluckten Einzelvokalen in Worten, um das Metrum in einer Verszeile zu korrigieren. Durch diese Lebendigkeit porträtiert Goethe meisterhaft die Charak-tere seiner Protagonisten in der Tragödie "Faust", ohne zusätzliche Kommentare dazu, wie es in Theaterstücken üblich ist, einzuführen. Auch sonst unterordnet er radikal die Sprache seinen poetischen Zwecken, indem er sogar die Rechtschrei-bung außer Kraft setzt und die Schreibweise von Wörtern verändert wie z. B. "genug", "gnug", "genung".

Die Auslassung von Vokalen wird in der Regel durch Apostrophe markiert. Goethe tut es nur manchmal ("g'nug"), meistens aber verzichtet darauf ("gnug"). Die Apostrophe sehen aus wie eine Entschuldigung für den Fehler oder als eine Andeutung: „Ja! Ich bin kein Analphabet und weiß, wie es richtig geschrieben wird!“. Die Abwesenheit von Apostrophen bei Goethes spricht vielmehr für sein Selbstbewusstsein, mit welchem er solche Rechtfertigungen für überflüssig hält.

Ich missbrauchte die Apostrophe auch ungern, denn sie verunstalten eigentlich den Text wie die heutigen Gendern-Macken auch. Doch schließlich habe ich die Notwendigkeit von Apostrophen als die nächste Lesehilfe erkannt, nachdem ich eins meiner alten Gedichte las und auf einmal spürte, dass die Melodie einer Verszeile nicht mehr stimmte. Ich suchte nach dem Fehler und fand ihn an dem fehlenden Apostroph in einem Wort mit ausgelassenem Vokal, das ich automa-tisch richtig, also ohne den Vokal zu verschlucken, las.

So war es für mich ohne weitere ästhetische Überlegungen die Konsequenz klar: Wenn ich schon selbst der Melodie meiner Gedichte beim Lesen nicht folgen kann, kann ich nicht erwarten, dass die Leser das ohne die Lesehilfe tun. Nach dieser Erfahrung habe ich all meine Gedichte durchgekämmt und die fehlenden Apostrophe überall tüchtig und ohne jeglichen Zweifel eingesetzt. In manchen Fällen setzte ich auch einen Bindestrich, um aus einer Silbe wie –au– zum rhyth-mischen Ausgleich zwei zu schaffen, z. B. Fra-u, Ha-us usä.

Die Gedichte aus meinem ganzen langen Leben sind von mir in diesem Sam-melband nicht chronologisch, sondern nach Zyklen, Reihen und Themen ange-ordnet worden. Damit der fürs Verstehen und Mitfühlen eines Gedichts wichtige Bezug auf die konkrete Lebenssituation bei Lesern nachvollziehbar bleibt, ver-weise ich bei jedem Gedicht ebenfalls als Lesehilfe auf die Zeit (den Monat oder die Jahreszeit, das Jahr und manchmal den Tag) und den Ort (ein Zug, ein Flug, eine Stadt und ein Bezirk, ein Staat) dessen Entstehens.

So denunziere ich mich selbst, wonach die Lyrik verlangt und was sie per se ausmacht. Ich habe aber keine Ahnung davon, wovon Ben Lerner spricht, wenn er über die "Denunzierung der Lyrik" in seinem Essay schreibt, so wie er keine Ahnung von der Lyrik hat, in welcher sich der Lyriker denunziert.

Ich hoffe mit diesen Lesehilfeerklärungen und –hinweisen Euch, meinen sich zu diesem poetischen Sammelband verirrten Lesern, etwas mehr Verständnis und Liebe zur Lyrik vermittelt zu haben, mit denen Ihr bestimmt auch mehr Spaß beim Lesen erfahrt, was ich Euch auch vom ganzen Herzen mit einem Auszug aus meinem Gedicht "Das Epitaphium auf den Grabstein der Liebe" (S. 125) wün-sche:
Und wenn mal ihr, verirrte Pilger,
Dem Kreuz begegnet auf dem Pfad,
Dann wisst, hier ruht ein Sünder-Single,
Wer lebenslang für Liebe trat.

Euer Viktor Prieb, die Adventszeit 2023, Berlin-Wilmersdorf