Viktor Eduard Prieb - Literatur
Poesie

Erinnerungen des Geburtstagskindes
zum eigenen 28. Geburtstag


Man sagt, die Kindheitserinnerungen seien immer helle und manch-mal sogar rosige. Vielleicht deswegen blieb mir mein Geburtstag als eine warme und kuschelige Sommernacht in Erinnerung. Das Pferd, mit dem der Vater die Dorfmedizinerin mit dem Spitznamen "Njawka" zur Mut-ter auf unser "Landgut" brachte, war allerdings vor dem Schlitten ange-spannt.

Dieses Detail blieb mir im Gedächtnis, weil meine älteren, wegen meiner Geburt in den Frost draußen verbannten Geschwister das Pferd durch ihre Vielzahl so in Bestürzung brachten, dass dieses sich verzwei-felt hin und her zu werfen begann und eine der beiden Deichseln bei die-sem Schlitten brach. Die benachbarte Alte Schipizicha behauptete da-nach bis zu ihrem Ende, dass es nichts Gutes zu bedeuten habe. Übri-gens, ihrer Prophezeiung zum Trotz, gelang es mir irgendwie, sie doch zu überleben.

Und die Deichsel prägte sich mir ins Gedächtnis ein, weil die ihm ohnehin zu schaffen machende und zweifelhafte Freude meines Vaters an meiner Geburt durch die Notwendigkeit diese unglückselige Deichsel zu reparieren noch mehr getrübt wurde. Aber nun gut, die Rede ist hier doch nicht von Deichseln!

Wir lebten zu dieser unvergesslichen Zeit, wie ich es schon erwähnt habe, auf dem "Landgut" am Friedhof. Trotzdem endete oder, besser gesagt, begann alles mit mir ziemlich wohlbehalten. Die Neuheit der un-gewohnten Umgebung verblüffte mich zwar dermaßen, dass Njawka den ganzen Vorrat ihrer bescheidenen Äskulaperinnerungen durchwühlen musste, bevor ich die ersten für die Neugeborenen üblichen Lebenszei-chen aufwies.

Den damals aber plötzlich erwachten und unstillbaren Wunsch nach Leben konnten aus mir dann alle achtundzwanzig nachfolgenden Jahre meines verworrenen Lebens nicht ausprügeln. Als ich in meiner Jugend von dieser Geschichte mit meiner Belebung erfuhr, überlief mich so eine Freude, dass ich während der nächsten fünf Jahre hemmungslos soff, bis es mir nach der Heirat klar wurde, dass es eigentlich keinen Grund zu derartigen Freude gibt.

Meine Freude teilten dabei mit mir immer meine zahlreichen Trink-kameraden und ich vermute, obwohl wir nie miteinander über die Gründe unserer überschwänglichen Freude sprachen, dass sie ebenfalls durch die eigene Nabelschnur erwürgt so wie ich auch auf die Welt ka-men.

Aber ich bin wieder von meinem Thema abgeschweift und etwas voreilig gewesen. Also, zurück zum Friedhof! Während der ersten fünf Jahre war er mein einziger Spielplatz, von allem, was an ihm grenzte, abgesehen. Wahrhaftig! Um einen Menschen kennenzulernen, soll man aus seiner Urquelle trinken, gleichzeitig auch den Durst von einem mit ihm zusammen sinnlos gefressenen Haufen Salz löschend!

Oft, auf dem Kreuz sitzend, das uns durch leichte Hand meines un-ternehmungslustigen, nächst älteren Bruders mal als flippiges Motor-rad, mal als das glorreiche und kecke Pferd Bukephalos diente, dachte ich über die Bürde des menschlichen Daseins und die Vergänglichkeit des Auf-uns-Zukommenden nach!

Dieses einfache Kreuz errichteten auf dem Grab eines ihrer entschla-fenen Mitmenschen die hier irgendwann mal vorbeiziehenden Kalmy-ken. Deswegen liegen mir wahrscheinlich seit klein auf so nah die mich in die Ferne rufenden Trugbilder von nie gesehenen Ländern und der mich so aufregende Geist der Landstreicherei!

In diesen fünf Jahren war ich, soweit ich mich erinnern kann, ein Me-lancholiker gewesen. Erst viel später verstand ich, wie das menschliche Areal – sei ich für diesen als ein Schimpfwort klingenden Ausdruck von meinen Nächsten verzeiht! – den Persönlichkeitstypus abändert.

Jedenfalls als ich meine Mittelschule absolvierte – und es geschah nach zwölf Jahren, nachdem ich den mir ans Herz gewachsenen Fried-hof verlassen hatte, – stempelte mich mein in der Hochschule aufgeklär-ter Mentor, unser Physik-Lehrer, als einen Sanguiniker in seiner Cha-rakteristik-Referenz ab. Die folgenden elf Urbanisierungsjahre machten aus mir meiner ebenfalls in der Hochschule aufgeklärten Ansicht nach allmählich, aber sicher einen Choleriker.

Nun kehren wir aber zu den ersten und unvergesslichen fünf Jahren zurück, als ich noch nicht so bewandert in den Psychologiefragen war. Also, dies waren die glücklichsten und am meisten gefüllten Jahre mei-nes Lebens gewesen!

An mir vorbei rollte mit steigendem und ohrenbetäubendem Lärm das nach dem Großen Vaterländischen Krieg zweite Planjahrfünft! Der Große und Siegreiche Steuermann und Erbauer des Sozialismus beende-te seinen glorreichen und mit menschlichen Spänen übersäten Lebens-weg. Ein kleiner streunender Hund namens "Strelka" (oder vielleicht auch "Belka" – so detailliert erinnere ich mich daran auch nicht mehr) probierte bereits seinen Anzug des in der Geschichte der Menschheit ersten Kosmonauten an.

Aber als das Schicksalsträchtigste erwies sich doch die Tatsache, dass ich in denselben Jahren das Glück hatte, der Zeitgenosse von Al-bert Einstein gewesen zu sein. Ich erfuhr dies zwar erst viel später. Da-für aber, als ich es erfuhr, verstand ich sofort, alle Gründe zu haben, mich in die Physik zu begeben.

Hier hätte man auch schon den abschließenden Punkt mit den Wor-ten: „Wo ich auch bis heute noch tätig bin“ setzen können, denn die wei-teren und hier nicht geschilderten Ereignisse in meinem Leben waren unbedeutend und verblassten in meinem Gedächtnis im Vergleich zu den hier geschilderten.

Man wird natürlich den Schlusspunkt irgendwann setzen müssen. Allerdings scheint es mir in der letzten Zeit mit immer größerer Ein-dringlichkeit, der Zeitgenosse während desselben Planjahrfünfts auch von Lew Tolstoi gewesen zu sein...

Offenbar stimmt etwas mit meinem Gedächtnis nicht. Die Jahre, wis-sen Sie. Deswegen mache ich vorläufig Schluss...

"Das schreibende Geburtstagskind"

Anno Domini 1979


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