Viktor Eduard Prieb - Literatur
- Prosa
Aus meinem im November 2021 verlegten Buch
(hier als PDF-Datei):
"Die Schließbarkeit des Kreises oder die zweihundertjährige Reise“. Teil 1: Der Zug fährt ab, Roman, 348 S.
ISBN (978-620-0-52043-2



Die Familie und der Erste deutsch-russische Krieg
oder über das Ende zwei glorioser Reiche


Die Vorfahren aus den deutschen Kolonien und der Anfang vom Ende
oder über Patriotismus und Nationalismus


Den Anfang vom Ende der fast hundertfünfzigjährigen erfolgreichen Kolonistengeschichte von Deutschen in Russland machte der Erste Weltkrieg. Für alle in der Welt war er nur einer der nächsten unzähligen Kriege. Für die deutschen Kolonisten war es ein Bruderkrieg. Der Krieg des Gewissens, trotz ihres eindeutigen Bekennens zu ihrer neuen Heimat und ihrem neuen Land.

Trotz ihrer Loyalität - trotz dem, dass bis zu zwanzig Prozent des russischen Generalstabs und über eine Drittelmillion Soldaten und Offiziere des russischen Heeres deutschstämmig waren; trotz dem, dass das Geschick dieser befehlshaberischen Generäle und die Tapferkeit dieser Soldaten und Offiziere durch glänzende Siege und durch viele höchste militärische Auszeichnungen gekrönt und anerkannt wurden, war die öffentliche allgemein antideutsche Meinung im Lande im Laufe des Krieges immer mehr speziell gegen deutsche Kolonisten gerichtet und wurde immer geheizter.

Deutsche Kolonisten wurden zum Sündenbock für die realen und offensichtlichen Missstände in der russischen Armee und im russischen Reiche gemacht - für die daraus resultierende Kriegsführungsunfähigkeit der Zarenregierung und für die immer häufiger vorkommenden Niederlagen an der Front. Sie wurden der Untreue und des Verrats bezichtigt. Den Kolonisten ging es schließlich nicht um die Liebe des russischen Volkes oder um die öffentliche Anerkennung. Es ging allmählich und immer mehr um ihre eigene Existenz.

Die Vertreter dieser öffentlichen Meinung - russische Nationalisten, die noch vor dem Krieg diese Meinung gegen übermäßigen Landbesitz von deutschen Kolonisten gehetzt hatten - gewannen im Krieg die Oberhand und die Zustimmung des Zaren. Bereits im Jahre 1915 wurde in der Kriegsgesetzgebung über die Zwangsevakuierung der deutschen Kolonisten aus der hundertfünfzig Kilometer breiten Westgrenzenzone verfügt. Die deutschen Landgutsbesitzer durften noch ihr Land innerhalb einer kurzen Frist verkaufen. Nach dem Ablauf der Frist wurde das Land zwangsversteigert.

Diese Verfügung betraf auch die Schwarzmeerkolonien, denn die Türkei gehörte auch zu den feindlichen, auf der Seite von Deutschland kriegführenden Staaten. Somit galt die Schwarzmeerküste als das Grenzgebiet. Die Breite dieses Gebietes wurde aber etwas großzügiger nur auf einhundert Kilometer bestimmt, so dass die Prischiber Kolonie direkt nicht betroffen war. Als die Niederlage Russlands im Krieg allmählich zu einer realen Gefahr wurde, sollten jedoch alle deutschen Kolonisten einen vernichtenden Vergeltungsschlag erleiden.

Anfangs 1917 erklärte die russische Regierung die totale und entschädigungsfreie Enteignung von Grund und Boden der deutschen Kolonisten im gesamten russischen Reich. - Ein purer Verzweifelungsracheakt an der Grenze des Selbstmordes, denn die deutschen Kolonisten lieferten den kämpfenden russischen Truppen nicht nur die landwirtschaftliche Verpflegung, sondern sogar das Militärgerät, das sie in mehreren umgestellten Landwirtschaftsmaschinenfabriken herstellten.

Zum Glück im totalen Unglück blieb der Zarenregierung keine Zeit mehr zur Vollstreckung dieses Todesurteils für die deutschen Kolonisten. Der Zerfall des russischen Reiches vollendete sich 1917 durch die Februarrevolution, das Abdanken der rachsüchtigen halbdeutschen Majestät und die Bildung der Provisorischen Regierung. Russland wurde auf einmal demokratisch - so eine Art russischer "Weimarer Republik".

Unter den ersten Schritten der neuen Regierung war die Aufhebung der antideutschen Kriegsgesetze, aber - fatalerweise für diese Regierung - nicht des Krieges selbst. Eine Verschnaufpause für die deutschen Kolonisten und ein Hoffnungsschimmer trotz des weitergeführten Krieges.

Diese demokratische Pause zwischen zweien Diktaturen war in Russland durch den Krieg und durch die Kriegsermüdung verkürzt und viel kürzer als die der Weimarer Republik in Deutschland gegönnte Zeit - nur sieben Monate zwischen Februar und Oktober 1917.

Nach dem Oktoberputsch kam der alles vorherige übertreffende bolschewistische Terror, vor dem der Fallbeil der Französischen Revolution verblasst und fast harmlos erscheinen mag. - Der sogar den in sechszehn Jahren danach das Deutschland und alle Deutschen degradierende Greuel der Nazis als seine mit der deutschen Gründlichkeit und Pedanterie durchgeführte Fortsetzung und seine methodisch perfektionierte Weiterentwicklung betrachten lässt.


Jede Macht braucht Brot
oder über die Bauernlogik und darüber, warum Beine zu machen besser ist als Wurzeln zu schlagen


Noch während dieser Sommeratempause im Jahre 1917 kam der älteste Sohn, der bereits an einer Kommerzhochschule in Charkow studierte, nach Hause und versuchte mit seinem alten Vater - dem Landgutbesitzer - über die trüben Aussichten und die explosive politische Atmosphäre im Lande zu reden, über die der Student in seinen Kreisen bestens informiert war:

- Die Provisorische Regierung wird immer schwächer und unsicherer. Die Bolschewiken lasten ihr die sinnlose Fortsetzung des Krieges an und spielen die Kriegsmüdigkeit der Soldaten und die Not des Volkes gegen diese Regierung aus. Daran bekommen auch sie immer mehr Unterstützung der Soldaten und des Volkes. Und wenn die Bolschewiken an die Macht kommen, dann behüte uns Gott! Sie versprechen einen Vernichtungskampf gegen ihre Klassenfeinde, nämlich gegen alle Kapitalisten und Exploiteure - wie sie es nennen - zu führen; sie werden ihr Hab und Gut rauben und sie selbst vernichten. Wir müssen alles hier schnellstens und zu jedem Preis zu Geld machen und nach Deutschland zurückkehren, bis es noch nicht zu spät ist.

Der alte aus den Zeitungen und aus den überall stattfindenden politischen Kolonistenversammlungen zu der Lage im Lande nicht weniger informierte Weise hörte seinem Sohn aufmerksam zu und erwiderte, nachdem dieser fertig war:

- Ich bin kein Kapitalist und Exploiteur. Ich bin Bauer, baue das Getreide fürs Brot an, beschäftige und ernähre dadurch eine Menge Leute. Es ist mir ziemlich egal, wer in St. Petersburg an der Macht ist. - Mein Brot braucht jede Macht. Die Provisorische Regierung hat dies bestätigt, indem sie die Gesetze des irre gewordenen Zaren aufgehoben hat. Also, ich sehe keinen Grund zur Panik und denke nicht daran, meinen in mehr als hundert Jahren erworbenen Boden und mein Gut zu verscherbeln und abzuhauen.

Die Bauernpanzerlogik! Mit fatalen Folgen, wie es sich sehr bald herausstellte. Dabei war sein Vater kein in der Peripherie verwilderter Lederhoseneinfaltspinsel vom Lande. Er war intelligent und gebildet, führte eine moderne Landwirtschaft, zu deren Erfolg perfekte Russischkenntnisse nicht in kleinem Maße beitrugen.


Integration zweier Parallelgesellschaften
oder darüber, wie die Russen zu Deutschen werden und umgekehrt


Das mit dem Russisch war in der Familie von Beginn an klar verstanden und durchgesetzt worden, während mehrere andere, weniger erfolgreiche - wenn auch nicht gerade arme - Kolonisten in mehr als hundert Jahren in Russland immer noch kein Wort Russisch sprachen und mit ihrem Deutsch - konservierten schwäbischen Dialekt - seelenruhig und bequem in Russland weiterlebten.

Das mit dem Russisch war nicht so einfach auch, denn diese Kolonien waren viel zu deutsch - ein sorgfältig aufgebautes Stück ihrer deutschen Heimat. Die kleinen Siedlungen und Ortschaften um das Zentrum herum trugen sogar die Namen von deutschen Groß- und Kleinstädten, welche - wie auch in Kolonien von Amerika - das anfängliche Heimweh von denen zum Ausdruck brachte, die diese Ortschaften anlegten.

Einige trugen Namen[1] wie "Heidelberg", "Karlsruhe", "Neu-Nassau", "Tiefbrunnen". Die anderen hie?en schlicht und einfach "Hoffental", "Roseneck", "Blumenort" und so ähnlich - je nachdem, wie der Ort ausgesehen hatte, als die ersten Erdhütten von hoffnungserfüllten Kolonisten aus dem deutschen Mutterland in der mit verschiedensten Wildblumen reich bedeckten Steppe ausgegraben worden waren.

In jeder einigermaßen großen Siedlung stand eine - meistens evangelische, in manchen Siedlungen auch katholische - Kirche mit anliegendem Friedhof, eine Realschule und sonst auch alles, was zum gesellschaftlichen Leben einer Gemeinde gehört. Alles war aus Natursteinen oder Ziegelsteinen erbaut und mit Dachziegeln bedeckt.

In Prischib - dem Zentrum der Prischiber Kolonie, wo Vaters Stadthaus stand - gab es noch eine Fachschule; das Rathaus, wo die Selbstverwaltung, zu der auch Vaters Vater - der Urgroßvater des Kleinen - gehörte, ihre Machtaufgaben ausführte; ein Gasthaus mit einem Weinkeller, das Vaters Bruder gehörte. Dieser Bruder besaß auch einige Weinberge auf der Krim und stellte eigenen Sekt her, der sogar beim Zarenhof gefragt und beliebt war.

Diese zu einer Stadt und zum Zentrum der Kolonie aufgestiegene Siedlung wurde von zwölf schwäbischen aus Württemberg ausgewanderten Familien - einschließlich der Familie des Vaters - gegründet und bestand zum großen Teil aus sich stark vermehrten Mitgliedern dieser Familien, wenn sie nun auch durch weibliche Abzweigungen andere Namen trugen.

In der Realschule wurde Russisch als Fremdsprache zwar unterrichtet, aber was bringt schon so ein noch dazu halbherzig wahrgenommener Unterricht, wenn es weit und breit keine russische Seele anzusprechen gab. Wenn ein dazu gerufener Russe als Lehrer nach Prischib kam, sprach er in einem Jahr schon eher Deutsch. Ihm blieb ja auch nichts anderes übrig, als sich in diese mononationale und monokulturelle Gesellschaft zu integrieren.

Die Integration der deutschen Kolonisten in die russische Gesellschaft war auch nie vorausgesetzt worden und niemand hatte diese von ihnen erwartet oder gar verlangt. Eher umgekehrt - sie waren ja als Deutsche mit ihrer Kultur, einschließlich ihrer Ackerbau- und Wirtschaftskultur nach Russland eingeladen worden, um diese Kultur den russischen Bauern beizubringen und nicht, um diese durch die Übernahme der Mentalität und Kulturlosigkeit der russischen Bauern zu verlieren, was eben ihre Integration bedeutet hätte.

Der Vater fuhr regelmäßig zu Landwirtschaftsmessen nach Leipzig, stellte eigene Produkte aus und kaufte einige moderne Landwirtschaftsmaschinen. In seinem etwa hundert Kilometer von Prischib entlegenen Landgut besaß er - mit zwei anderen Brüdern - eintausendzweihundert Hektar Ackerland; eine Ziegelei, die alle umliegenden Dörfer und Siedlungen mit Backsteinen und Dachziegeln belieferte; eine Wassermühle; eine Melkerei; Kuh- und Pferdezuchtbetriebe sowie einen großen Obst- und Gemüsegarten.

Das einzige, wovon er nicht viel hielt, war die Politik, besonders nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. So war Vaters Entscheidung zur aktuellen politischen Situation in Russland getroffen. Sein Sohn hatte ihm nichts mehr zu sagen.


Das Ende des Zweiten Deutschen Reiches
oder über politischen Regenbogen, rot-grüne Koalitionen und darüber, wer nun Vaters Brot braucht


Was zu erwarten war - geschah auch. Gleich nach der mit Hilfe und Mitwirkung des Deutschen Reiches erputschten Machtübernahme von Bolschewiken im Oktober 1917 erfasste der große Führer des Proletariats seine drei Dekrete.

Im ersten - über die Macht - ernannte Lenin den "Rat der Volkskommissare" zur einzigen und alleinigen Regierungsmacht im Lande und sich selbst zum einzigen und alleinigen "Führer" dieses Rates und somit des Landes.

Im zweiten - über den Frieden - erklärte er die Bereitschaft des nun von ihm geführten, bolschewistischen Russlands zu einem zuerst dem deutschen Generalstab als Abzahlung für die Hilfe beim Machtergreifen und erst dann den russischen Soldaten und Matrosen versprochenen sofortigen Frieden. Dieser Frieden wurde im März 1918 im Brest-Litowsker Friedensabkommen zwischen dem bolschewistischen Russland und dem Deutschen Kaiserreich geschlossen.

Das dritte - über den Boden - verfügte über totale, entschädigungsfreie Enteignung von Grund und Boden aller Grundbesitzer und bereitete damit den deutschen Kolonisten ihr endgültiges, noch vom Zaren geplantes Ende.

Die Schwarzmeerkolonien blieben zunächst auch diesmal davon verschont. Die Ukraine machte im November 1917 von Lenins Deklaration über freie nationale Selbstbestimmung Gebrauch: Sie erklärte sich im Januar 1918 zu der selbständigen Ukrainischen Volksrepublik und beanspruchte ihre Unabhängigkeit von Russland.

Diese Unabhängigkeitserklärung der ukrainischen nationalistischen Regierung von Hetman Petljura führte zu sofortigen militärischen Auseinandersetzungen mit dem dadurch wirtschaftlich unfähig gemachten und zornig gewordenen Russland und zu bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen im Lande. Der neue Staat und seine nationalistische Armee sowie die eingedrungene Rote Armee brauchten Vaters Brot.

Um sich aus der Affäre zu ziehen, schließ die neue souveräne Ukraine kurzerhand im Februar 1918 - noch vor Russland und ebenfalls in Brest-Litowsk - ihr eigenes Friedensabkommen mit dem Deutschen Reich. Nach diesem Abkommen kamen bald deutsche Soldaten aus Deutschland sogar selbst zum Bauern-Vater nach Südrussland, der zu ihnen nach Deutschland nicht wollte. Sie kamen als Schutztruppen für die deutschen Kolonisten. Die Deutschen in Kolonien empfingen sie mit brüderlicher Liebe und nannten sie "Deutschländer", um sich von Reichsdeutschen zu unterscheiden. Die Deutschländer - wie auch das Zweite Deutsche Reich selbst - brauchten Vaters Brot auch.

Die deutschen Kolonisten bedankten sich bei der deutschen Militärmacht für diesen Schutz mit einer Kriegsleihe von sechzig Millionen Goldmark[2]. Diese brachte dann, vor dem nächsten - Zweiten - Weltkrieg dem nächsten - Dritten - Deutschen Reich wiederum ein daraus aufgewertetes Guthaben von weit über eine Milliarde Reichsmark. - Ein Reichtum in den Zeiten, als die deutschen Kolonien in Russland längst nicht mehr existierten und die deutschen Kolonisten selbst in Kolchosen degradierten und verhungerten oder in bolschewistischen Zwangsarbeitslagern bereits ihrer totalen Vernichtung ausgesetzt wurden.

Aber auch damals dauerte der von ihnen großzügig bedankte Schutz der deutschen Kolonisten nicht zu lange. Schon im November 1918, als der Bumerang - der von deutschen Geheimdiensten in St. Petersburg, nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges auf Russisch Petrograd genannt, angestiftete Putsch - in einem knappen Jahr in Berlin zurückschlug und das Zweite Deutsche Kaiserreich nun selbst traf und zugrunde richtete, zogen die kaiserlichen Schutztruppen und mit ihnen auch mehrere Kolonisten nach Deutschland ab. Der Vater blieb.

Über das neue souveräne Land Ukraine tobte nun endgültig ein grausamer Bürgerkrieg. Es gab die Rote Garde aus hungrigen Matrosen und Arbeitern vom Norden, die Weiße Garde aus den Resten der alten russischen Zarenarmee - vor allem das Offizierkorps von Kadetten bis zu Generälen - sowie aus Freiwilligen, wie die von und aus deutschen Kolonisten formierten Selbstschutztruppen oder die Kosakenformationen und die anderen, die einiges besaßen und etwas gegen unfaire Tauschangebote von Bolschewiken hatten. Es gab immer noch die gelb-blaue ukrainisch-nationalistische Armee und dazu noch unzählige farbige wie auch farblose Banden bis zu einer Armeegröße, wie die "Grüne Armee" von Batjko Machno.

All diese Banden, Armeen und Garden mit Regenbogenfarben rollten verheerend über und durch die Ukraine hin und her, die im Süden überwiegend von deutschen Kolonisten besiedelt war. Sie alle brauchten Vaters Brot - da hatte er recht -, auch wenn es nicht jeder bezahlte.

Der Ex-Hirt auf Vaters Landgut und der Ex-Anarchist Nestor Machno - der ehemalige Praktiker-Bombenleger und Gefährte des Theoretikers Bakunin und somit der Ex-Gegner jeder Staatlichkeit, der jetzt mit seiner Riesenbande-Armee je nach der militärischen Konjunktur und Lage mal auf einer, mal auf der anderen Seite stand und mal die Roten, mal die Weißen schlug - gründete sogar seine eigene freie Republik mit dem Hauptsitz in einer großen ukrainischen Siedlung namens "Guljai-Pole"[3].

Das Landgut des Vaters lag unglücklicherweise nur ein paar Kilometer von Guljai-Pole entfernt und gelangte somit auf das Territorium der freien Republik von Batjko Machno. Jeder Staat und jede Macht brauchten - wie der Vater es so treffend und weise seinem Sohn erklärt hatte - sein Brot.

Machnos Gesandter und Steuerantreiber Löwa Zadow - eine dunkle historische Person - kam zum Vater immer häufiger. Der freie und kriegführende Staat von Machno brauchte immer mehr Brot, aber auch Fleisch, Pferde und Geld schon sowieso - alles, versteht sich, als Steuer, zu der alles auf diesem Territorium Lebende und noch Wirtschaftende durch Machnos Dekret verpflichtet wurde.

Falls Löwa Zadow mit seiner Truppe zu kommen vergaß, kamen zum Vater hungrige ukrainische Bauern aus umliegenden Dörfern, die tagsüber Machnos Armee bildeten und sonst mit ihren Familien zu Hause ausharren und sich ernähren mussten. Sie brauchten kein rechtfertigendes Dekret, ansonsten brauchten sie aber alles bis zum letzten Huhn und Ei, bis zum letzten Topf und Knopf.


Die erste Abfahrt
oder darüber, wohin eine erfolgreiche Verteidigung führt


Einer von Vaters Brüdern hatte auf ihrem Landgut sein eigenes Wohnhaus und zwei erwachsene Söhne in diesem Haus. Sie kamen vor kurzem aus dem Krieg und zwar so, wie sie ihn geführt hatten - mit allen Waffen und mit der ganzen Munition. Damit versuchten sie einst, beim nächsten Banditenüberfall, Stellung zu halten. Vaters Familie und die Familie - Frau und vier Tüchter - seines anderen, Vaters Wohnhaus teilenden Bruders sollten auch zu ihnen hinüber kommen. Die Kampfuntauglichen versteckten sich im Hause und die anderen bewaffneten und verbarrikadierten sich im Dachraum.

Die Banditen kamen in der Nacht und wurden vom heftigen Feuer der Verteidiger so überrascht, dass sie den zum Schlachtfeld gemachten Hof fluchtartig, ohne richtigen Kampf und nur mit ein paar ziellosen Schüssen verließen. Beim Rückzug drohten sie jedoch namentlich den beiden Söhnen-Soldaten wiederzukommen, sodass die beiden Kameraden dann schon sehen würden, was sie mit ihnen machen. Diese Kerle wuchsen mit den Landgutskindern zusammen und kannten einander - auch die beiden Brüder - von klein auf wie ein geschältes Ei.

Die Bedrohung war ernst zu nehmen. Sie konnten die Brüder - und nicht nur sie - jeden Moment, auch tagsüber, aus jeder Ecke erwischen. Ganz zu schweigen davon, es zu wagen, die Stellung gegen die ganze Armee von Batjko Machno zu halten. Diese Armee mit ihren ungefähr eintausend Tatschankas - moderne Bürgerkriegswaffe aus einem Dreipferdegespann mit dem nach hinten gerichteten Maschinengewehr - jagte respektvolle Angst sowohl der Roten als auch der Weißen Garde ein.

Die Ratssitzung der Väter war kurz und die Entscheidung schnell. Die restlichen Ackerpferde, die Löwa Zadow für seine Reiterei unbrauchbar fand, waren in zwei Pferdefuhren eingespannt, alles übriggebliebene, was noch einen Wert hatte, wurde darauf geladen, die Kinder und Frauen ebenfalls darauf gesetzt, zwei Rinder hinten dran angebunden.

Der Pferdezug fuhr schon am nächsten Abend ab.


Die letzte Bastion
oder wiederum über große Gesellschaften und kleine Freuden


Den gefährlichsten, auf dem Banditenterritorium liegenden Teil ihres Fluchtweges überwunden sie in der Nacht und kamen am nächsten Abend in Prischib an. Vaters Stadthaus, aus siebzehn Zimmern bestehend, bot ihnen Zuflucht und Rettung und wurde auf einmal voll von Flüchtlingen.

Das Haus wurde während des ganzen Jahres von der ältesten Tochter bewohnt, die in Prischib ihre Mädchenschule bereits absolvierte und wie ihr älterer Bruder weiterstudieren sollte. Die historischen Ereignisse jedoch überrollten sie und machten diesen Plänen für immer einen Strich durch die Rechnung, genauso wie denen von ihren jüngeren Geschwistern. Sie blieb in Prischib, war mit einer von Löwa Zadow dadurch geretteten Milchkuh versorgt und konnte sich somit noch vernünftig ernähren.

Als der Pferdezug ankam, waren bereits ein paar verwandte Flüchtlingsfamilien aus anderen brennenden Landgütern im Stadthaus des Vaters angekommen. Auch der Sohn aus Charkow kam heim. Mit seinem Studium war es nun auch endgültig vorbei. Charkow war von besoffenen Matrosen der Roten Garde überfüllt.

Da alle Studierenden eine Uniform mit Messingknöpfen zu tragen hatten, gerieten sie allesamt in Lebensgefahr. Einem seiner Kommilitonen wurde von Matrosen auf offener Strasse ein kurzer Prozess gemacht. Sie sollten ihn wegen dieser Messingknöpfe für einen der verhassten Offiziere oder zumindest für einen Kadetten gehalten haben, der seine Schulterklappen versteckte und sie verarschen wollte, und ermordeten ihn auf der Stelle. Vielleicht waren sie dabei einfach zu besoffen.

Also, das große Haus war fürs erste voll. Diese Umstände freuten den kleinsten Sohn wahrscheinlich so, wie die Größe der in eine enge Hütte gepackten Familie vierzig Jahre später seinen kleinsten Sohn, den Kleinen, in Sibirien auch freute.

Prischib war von Weißgardisten besetzt, von denen manche Offiziere auch noch in Vaters Haus quartierten. Es war eine der hellsten Erinnerungen des Vaters vom Kleinen: Wie die ganze Flüchtlingsgesellschaft abends im größten Wohnzimmer herumgesessen hatte, er seinen weißen Flügel gespielt hatte und die Offiziere-Weißgardisten ihre melancholischen Romanzen gesungen hatten. Zum ersten Mal waren seine - noch kleinen Kindes - Fähigkeiten gefragt worden, und er hatte dadurch im Mittelpunkt des Abends gestanden, Applaus der anderen und Lob der Weißen Offiziere genossen.


Das Ende des russischen Zarenreiches und der Tod des Vaters
oder darüber, wer für was kämpft und wie Bauern gefeuert werden


Die Rote Garde rückte vom Norden unaufhaltsam immer näher heran. Die Weiße Garde mit diesen Offizieren musste abziehen und ging nach Krim, um den Roten ihren letzten Kampf zu bieten, ihn zu verlieren, sich im Ausland in alle Winde zu zerstreuen und sich somit dort als die Weiße Garde, als die Russische Armee und als das Zarenreich Russland selbst als nie da gewesene aufzulösen.

Mit ihnen gingen die zwei vom Landgut geflüchteten Söhne-Soldaten, die ihre Pferde sattelten, ihre Waffen und Munition nahmen und mit den aus mehreren Tausenden Mann bestehenden und gut bewaffneten Selbstschutztruppen der deutschen Kolonisten ritten. Diese Selbstschutztruppen waren zunächst - nach dem Abzug der Deutschländer - alleine gegen die Übermacht der nächsten vorübergehenden "Rot-Grünen" Koalition von Rotgardisten und Machnos Banditen geblieben und schlossen sich später den Weißgardisten fest an.

Die deutschen Kolonistenmänner - die wie die Kosaken auch in der Weißen Garde im Unterschied zu den Weißen Offizieren nicht für Ehre und Monarchie, sondern für ihr eigenes Hab und Gut gegen barbarische Rote Horden aufgetreten hatten - kämpften, verloren und mussten dann dafür büßen. Die beiden Söhne-Soldaten verschwanden spurlos in diesem Kampf und keiner der Familienmitglieder hörte irgendwann irgendetwas mehr über ihr Schicksal.

Kurze Zeit später starb der dreiundsiebzigjährige, für das Brot zuständige Vater-Bauer an Asthma, an dem er auch schon früher gelitten hatte und das - verstärkt durch eine Grippe - seinen durch alle Strapazen der letzten Zeit geschwächten Organismus ganz schnell erledigte. Besonders niederschmetternd war für ihn der letzte Schlag des Schicksals voller Ironie.

Im Jahre 1917 bezahlte er die letzte Rate für das vor fünfzig Jahren noch an seinen Vater nach der Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland[4] verpachtete Land ab, das nun zu seinem eigenen Besitz wurde. Daran hatte er gearbeitet und darauf hatte er sich jahrelang gefreut. Er hatte dieses Land gerade mal ein Jahr besessen, als es ihm jetzt, nach der Niederlage der Ukraine, per Lenins Dekret weggenommen wurde.

Der alte weise Bauer mit seinen Leistungen und seinem Brot wurde von Kommunisten fristlos, entschädigungslos und zukunftslos gefeuert und konnte das nicht überleben. Er wurde von seiner Familie auf dem evangelischen Kirchhof in der Familiengrabstätte neben seinem Vater zur letzten Ruhe gebettet.


Die zweite Abfahrt
oder über die rote Plage, schwache Menschen und starke Entscheidungen


Das Kommando über seine Familie übernahm der älteste Sohn-Student aus Charkow, dessen mit dem Vater früher ausdiskutierte Entscheidung nun feststand - nur gab es jetzt, im Unterschied zu damals, nichts mehr zu verscherbeln. Was blieb - Sack und Pack, Frauen und Kinder - wurde wieder auf einen nunmehr aus einem Pferdewagen und einer hintendran angebundenen Milchkuh bestehenden Flüchtlingszug aufgeladen.

Der nächste Flüchtlingszug fuhr in Richtung der Krim ab - weg von den anrückenden, besoffenen und blutrünstigen Matrosen und Arbeitern, die sich als die revolutionäre Rote Garde bezeichneten.

In einer Woche legten sie etwa hundert Kilometer Fluchtweg hinter sich. Es begann bereits der Frühling 1919. Der Schnee schmelzte und es fing an, immer häufiger zu regnen. Der fette ukrainische Mutterboden schwoll vom Wasserüberfluss an und leistete Rädern keinen Widerstand mehr - sie versanken darin bis auf die Achsen. An einem kleinen, aber durch Tauwasser unpassierbar gewordenen Fluss blieb der Zug stecken. Der anführende Sohn traf eine verzweifelte und bittere Entscheidung:

- Ihr alle kehrt nach Prischib zurück, und ich gehe allein mit einem Rucksack weiter. Euch - Frauen und Kindern - darf nichts passieren, während ich - ein erwachsener Mann - für einen flüchtigen Weißgardisten gehalten und erschossen werde.

Die Familie, von der nun die fünfundfünfzigjährige Mutter, die älteste zwanzigjährige Tochter - die künftige Tante - die nächste achtzehnjährige Tochter, ein vierzehnjähriger Sohn und ein elfjähriger Sohn - der künftige Vater des Kleinen - übrig blieben, kehrte nach bereits von den Rotgardisten besetzten Prischib zurück. Sie wurden zwar streng befragt vor allem danach, wieso sie auf der Flucht gewesen waren, wenn sie ihren Beteuerungen nach unschuldig seien; wieder mal beraubt, indem ihnen nun alles - womit sie zurückkehrten - weggenommen wurde, aber großzügig am Leben gelassen.

Die Roten hatten zu dieser Zeit noch genug erwachsene Männer hinzurichten, obwohl sie ihre Rachefeldzüge nach ihren Erfahrungen in erbitterten Kämpfen gegen die Selbstschutztruppen der deutschen Kolonisten nicht nur gegen Männer führten. Ganze Dörfer und Siedlungen von deutschen Kolonisten - samt aller Einwohner, samt ihrer Kinder, Frauen und der Alten - wurden im Frühling und Sommer 1919 von den Bolschewiken verbrannt: Vier davon auf dem kläglichen Fluchtwege der Familie südlich von Prischib.

Der fortgegangene Sohn war auf der Krim von manchen Verwandten gesehen worden. Nach einigen widersprüchlichen Aussagen hätte er im Typhus gelegen, nach den anderen hätte er sich als Matrose auf ein ins Ausland auslaufendes Schiff beworben. Jedenfalls galt er seitdem als verschollen und die Familie hörte außer dieser Gerüchte nie wieder etwas von ihm.

Das Leben in Prischib - ohne jegliche Grundlage in dem großen, aber leer beraubten Haus - wurde immer schwieriger. Die Mutter - geborene Stark - beschloss, das Haus den beiden erwachsenen Töchtern zu überlassen und mit beiden minderjährigen Söhnen fortzugehen.


Der Beginn des "brotlosen Paradieses auf Erden" und der Weg ins Nirgendwo
oder darüber, was bedeutet, nackt zu sein, und wonach der Humor riecht


Eine starke, wenn auch merkwürdige Entscheidung. Geplant war es, die durch Lenins Bodendekret jedem Bauern versprochenen fünf Hektar Land pro Kopf für die fünfköpfige Familie in Anspruch zu nehmen und damit den neuen Anfang zu versuchen, obwohl sie so viel Kraft gar nicht hatten, dieses Land zu beackern.

Ihnen wurde der Obstgarten auf ihrem eigenen Landgut zugeschnitten. Das Landgut lag in Ruinen und es schien keinen zu geben, der von ihm Gebrauch zum Wohle des Staates und des Volkes machen wollte.

Die Scheunenreste wurden auseinander genommen, und aus den gewonnenen Ziegelsteinen wurde eine kleine Hütte gebastelt. Die übrig gebliebenen Steine wurden teils verkauft, teils gegen Lebensmittel getauscht. Der Garten wurde gepflegt und allmählich wiederbelebt, sodass er wieder fruchtete. Die Früchte wurden wiederum umgetauscht und verkauft. Die Jungs arbeiteten, wurden älter und kräftiger und es schien schon, wirklich aufwärts zu gehen.

Die Hungerjahre nach dem Bürgerkrieg waren überstanden. In diesen Jahren sahen sie, wie Menschen aus umliegenden Dörfern, die sie von früher kannten, massenhaft herumstreunten und verhungerten. Die Menschen, die bei ihnen früher beschäftigt worden waren, ihr Geld und Brot verdient und gut gelebt hatten, verfielen in wenigen Jahren nach der Revolution und Vaters Tod in Not und Hungertod.

Einige von ihnen waren bei der Mutter, beklagten sich darüber und erinnerten sich an die alten guten Zeiten, als alles noch so schön und wohlergehend war. Die Bolschewiken schienen, das Brot für das Volk am wenigsten zu brauchen. Sie waren eher an Hungersnöten interessiert.

Dann kam die Ära Stalins, der den neuen Bauern ihren Grund und Boden wieder auf brutalste Weise wegnahm. Die ärmsten - die ihre Anteile gleich versoffen oder runtergewirtschaftet und damit ihre Unfähigkeit zu wirtschaften bewiesen hatten - wurden in Kolchosen zusammengetrieben. Die anderen, die in dieser kürzesten Zeit ihr Land zum Blühen gebracht und vermehrt hatten - darunter auch eine Menge von vorher beraubten deutschen Kolonisten - wurden zu Kulaken und Feinden der Sowjetmacht erklärt, nach Sibirien in die Arbeitslager verbannt oder - wie bereits gewöhnlich - einfach erschossen, während ihr Land, Hab und Gut auch in die Kolchosen an die Unfähigen ging.

Dahin ging der nächste große Teil der Familienverwandtschaft, die kurz vor der Revolution aus knapp hundert Familien aus allen Kolonienecken bestanden hatte. Die Kollektivierung der Landwirtschaft - als eine Voraussetzung für die Industrialisierung des bolschewistischen Reiches, als die Vorbereitung der russisch-roten Expansion in den feindlich-kapitalistischen Westen - nahm somit ihren "erfolgreichen" und verheerenden Lauf.

Die Erfolge der Mutter mit den zwei Halbstarken waren - Gott sei Dank! - bescheidend gewesen, um sie zu Kulaken zu machen und zu vernichten. Trotzdem wurde der von Kindern wiederbelebte Garten enteignet und kollektiviert, die von ihnen erbaute Hütte ebenfalls.

Bevor sie aus der Hütte weggingen, zeichnete der Jüngste auf dem Ofen einen nackten Mann und schrieb darüber: "Bei dem ist nichts mehr zu holen!" - der künftige Vater des Kleinen wusste noch nicht, dass derartige Witze lebensgefährlich sein können. Er war noch kein fertiger Überlebenskünstler - er lernte es noch und ging seinem zwanzigsten Jahr entgegen.

Sie gingen wieder - diesmal zu Fuß und diesmal ins Nirgendwo. "Marschieren oder krepieren" schien allmählich bei den Kolonisten wie bei den französischen Fremdenlegion?ren zu ihrem Motto zu werden.

Das Volk auf dem Weg - wie der Ewige Jude[5], nur ohne zu wissen, wofür es bestraft und selbst gekreuzigt wird.


Neue Art von sowjetischen Funktionären
oder darüber, wie schön es sein kann, ein armer Pole zu sein,
und wer im Hause der Herr ist


Die drei gelangten nach einer schweren Wanderzeit in einer kleinen Eisenbahnstation am Asowschen Meer, die in der Nähe von Grunau - einer anderen der deutschen Kolonien in der Ukraine - lag. Nach Grunau waren damals, noch vor Vaters Tod, aus Prischib sein Bruder - der Vater zweier Söhne-Soldaten gegangen. Er hatte hier ein Rasthaus und sein Stadthaus besessen.

Die drei fanden hier weder den Vater noch seine Söhne und auch sonst niemanden mehr aus der Verwandtschaft und mussten woanders nach einem Unterschlupf suchen. Der ältere Sohn fand eine einigermaßen bezahlte Stelle bei der Eisenbahn und eine kleine Mietwohnung. Weder die Bezahlung noch die Wohnung reichten für drei.

Der jüngste Sohn musste gehen. Die Mutter war bei dem älteren Sohn geblieben und starb dort kurz vor dem Zweiten deutsch-russischen Krieg. Der Bruder arbeitete weiter und verschwand nach dem Ausbruch dieses Krieges spurlos, wahrscheinlich nach Stalins Erlass vom August 1941 in der "Trudarmee" - einem der extra für die deutschen Kolonisten eingerichteten Zwangsarbeitskonzentrationslager.

Der jüngste Sohn marschierte auf die Krim - man hörte, dort gäbe es Arbeit. Auf diesem langen und beschwerlichen Wege erkrankte er und starb fast an Typhus. Gute Menschen aus einem deutschen Dorf auf seinem Wege pflegten ihn eine Zeit lang und stellten ihn wieder auf die Beine. Abgemagert zu einem Skelett erschien er schließlich bei seiner ältesten Schwester in Prischib.

Die Schwester heiratete mittlerweile einen der vorbei streuenden Obdachlosen - einen bei ihr obdachsuchenden Polen. - Es wurde bei Stalin erneut immer gefährlicher, die kapitalistisch-exploiteurischen Wurzeln aufzuweisen, und die kluge Schwester hoffte, durch ihren neuen durch diese Heirat erworbenen und total lumpenproletarisch-polnischen Namen diese Wurzel endlich und endgültig vertuschen zu können.

Die jüngere Schwester hatte aus denselben Gründen einen russischen Arzt geheiratet und mit ihm nach Zitomir in die West-Ukraine gezogen, wo sie gleich nach dem Kriegsausbruch für immer verschollen war - wahrscheinlich war sie im Juni 1941 unter den ersten deutschen Bomben gefallen.

Die gebliebene Schwester und ihr polnischer Retter hatten zusammen bereits eine Tochter und einen Sohn in die Welt gesetzt. Der Mann war ein Niemand ohne jede Ausbildung, ohne Beruf und überhaupt ohne jede Berufung oder Fähigkeit - ein geborener sowjetisch-kommunistischer Funktionär also. Aus diesen Gründen funktionierte er auch bei Bolschewiken in verschiedenen Rollen, indem er sich mit einer Aktentasche unter dem Arm herumtrieb, in welcher ein paar Butterbrote von zu Hause und eine Flasche gekauften Wodka für "wichtige Besprechungen" mit den anderen Funktionären lagen. Er war aber auch nun der Herr in Vaters Hause. So musste der jüngste Bruder weiterziehen.

* * *




[1] "Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" (mit der beigelegten Landkarte der deutschen Siedlungen in ehem. Gebieten Taurien und Ekaterinoslaw, bearbeitet von Dr. K. Stumpp), herausgegeben von der Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland, Stuttgart, 1957

[2] Ingeborg Fleischhauer "Die Deutschen im Zarenreich". Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), Stuttgart, 2. Auflage, 1991

[3] "Spazierfeld" beziehungsweise "Sauffeld" (rus.)

[4] Die Leibeigenschaft wurde in Russland erst im Jahre 1861 vom Zaren Alexander II. abgeschaft worden - 80 Jahre später als im Deutschen Reich vom Kaiser Joseph II.

[5] Der sagenhafte Jude, der zur Strafe für die Kreuzigung Christi ruhelos durch die Welt irren muss


All meine literarischen Manuskripte
(PDF-Digitalskripte)