Viktor Eduard Prieb - Literatur
- Prosa

Aus meinem im November 2021 verlegten Buch
(hier als PDF-Datei):
"Die Schließbarkeit des Kreises oder die zweihundertjährige Reise“. Teil 1: Der Zug fährt ab, Roman, 348 S.
ISBN (978-620-0-52043-2



Das Infantilwerden der Gesellschaft
oder über die erste Liebe, Freuds Theorie und darüber,
wen man heiratet, und warum man sich scheiden lassen soll


Derartige Probleme und Fragen wurden auch theoretisch unter Vaters Kollegen öfter ausdiskutiert. Einer dieser Kollegen - mit dem der Vater die Uni zusammen absolviert hatte, mit ihm eines Sommers im Norden gewesen war, und welcher nun in demselben Institut, aber in einer anderen der oben geschilderten Gruppen arbeitete - machte es sich zur Gewohnheit, den Vater zu Diskussionen über irgendwelche Themen herauszufordern.

Vielleicht gerade deswegen, weil ihm diese kreative und ihm von seinem Chef weggenommene Hirnarbeit doch etwas fehlte. Außerdem wusste er nach allen gemeinsamen Taten mit dem Vater seine Meinung zu schätzen, und er hörte sich diese Meinungen gerne an. Am Ende hieß es dann bei ihm:

- Nun haben wir noch "ein Ding an sich" aufgeklärt!

Der Kollege war nett sowie durchaus schlicht und normal, was ihn gegen etwaige, unter Studenten übliche Schizothymie [1] total abgesichert hatte. Die Schizothymie, gegen welche besonders viele Studenten anfällig waren, die ihren Kopf an Fragen wie "Worin besteht der Sinn des Lebens?" oder gar "Sein oder nicht sein?" zerbrachen.

Darüber hinaus war der Kollege immer bereit eine mit seinen Freunden gemeinsame Rechnung zu bezahlen, er hatte aber irgendwie immer einen großen, schwer wechselbaren Geldschein dabei und auch diesen zog er dann so langsam, dass der Vater es immer schaffte seinen schneller zu ziehen und dadurch für beide oder auch für mehrere öfter zu bezahlen.

Er stammte ebenfalls aus einem sibirischen Dorf, aber seine Eltern gehörten - im Unterschied zu den "kriminellen", verbannten und zwangseingesiedelten Eltern des Vaters - zu den Ureinwohnern Sibiriens und zu der sowjetischen Dorfintelligenzija: Sein Vater war ein Parteimitglied und Rinderbetriebsleiter. Von seiner Mutter vererbte er eine weibliche Schönheit im Gesicht, welche alle um ihn herum streunenden Mädchen und Frauen an den armen Kerl heranlockte, wie ein Misthaufen alle Fliegen anlockt.

Diesen nicht von ihm verschuldeten "Umst?nden" war seine naive Selbstzufriedenheit zu verdanken, mit welcher er seinen Kopf in fünf Jahren Uni-Zeit hatte voll mit Physik stopfen lassen, aber von sonstigen Folgen der höchstlabilen intellektuell-geistlichen Uni-Umgebung unversehrt geblieben war.

Mit einem Wort war er von der Menschensorte, die als Spitzel vom KGB gerne und leicht angeworben wurde und sich gerne - sogar ohne jegliche Erpressung - anwerben ließ, um ihre Kommilitonen und Kollegen bei der Behörde zu denunzieren oder, wie es im sowjetischen Volksmund hieß, über sie zu "klopfen", was auch ihren Spitzelnamen "Klopfer" [2] im selben Munde bestimmte.

Für den Vater war er nicht als eine besondere Persönlichkeit interessant, jedoch als ein Typ, welcher eine breite Schicht der Menschheit am besten vertrat. Das war für den Vater viel wichtiger, denn er konnte die unübersichtliche Vielfalt der Menschheit durch solche typischen Vertreter bis auf ein paar Menschencharaktere reduzieren. So war es dann viel leichter die Menschheit und ihr buntes Treiben zu handhaben, zu verstehen und - wie gesagt - auch einen möglichen Stukatsch-Klopfer rechtzeitig zu erkennen.

Diese Charaktere verwendete der Vater dann auch in Diskussionen, um den Anderen seine Argumente durch solche Beispiele lebendiger und zugänglicher zu machen. So wie er es seiner Tochter bei der Diskussion über Entscheidungsfähigkeit durch das Paradigma von verhungerndem Buridans Esel oder von dem verzweifelt vor zweien gleichen Türen stehenden Menschen anschaulich zu machen versuchte.

Gerade dieser Kollege lieferte ihm dieses letzte Bild, der eines Tages zum Vater in seinen Forschungskeller runterkam und ihn um einen Rat bat:

- Ich bin in eine Sackgasse geraten und finde keinen Ausweg. Kann ich mit dir darüber reden?

- Reden kostet ja nichts. Schieß los.

- Es geht um Frauen.

- Um was denn sonst! Auf diesem Felde liegen bei manchen die meisten Probleme und Sackgassen.

- Ne, an sich haben sie mit meinem Problem nichts zu tun.

- Müssen sie auch nicht. Lies Freud. Es ist in uns drin. - versuchte der Vater auf lockerere Art auszuweichen.

Pass auf, was du sagst! Freud zu lesen, ist bei uns verboten!

- Blödsinn! Bei uns zählt es lediglich zur Normalität in unserem Verhalten nur von den kommunistischen Ideen und nicht von irgendwelcher sexuellpathologisch-bourgeoiser Libido geführt zu werden. Wenn ich mein Verhalten nach seinen Trieben analysiere, was nicht verboten ist, muss ich dann Freud auch nicht lesen, um festzustellen, dass ich nicht normal bin. - ärgerte sich der Vater darüber, dass er - loyalitätsmäßig - fast ausrutschte, statt auszuweichen.

- Jedenfalls geht es bei mir nicht um meine Libido, sondern um die pure Liebe.

- Sei selig, wenn du dir dessen so sicher bist! Meinst du die platonische?

- Ich meine Liebe zu zwei Frauen, welche ich gleich begehre. Dadurch ist meine Libido neutralisiert, aber das Problem bleibt.

- Liebe zu zwei Frauen gibt es nicht! Und unsere Libido lässt sich nie ausschalten oder neutralisieren. Sie ist in manchem Verhalten nur schwer ausfindig zu machen.

- Na dann versuchen wir es jetzt zu tun. Vielleicht hilft es mir auch weiter.

- Lädst du mich damit ein, deine Unterwäsche mit dir zusammen durchzuwühlen?

- Ich will nur, dass du mir zuhörst.

- Bin ganz Ohr!

- Ich habe dir vielleicht schon mal über meine Studentenliebe zu einem schönen und klugen Mädchen erzählt. Sie liebte mich auch, und wir kamen einander schnell sehr nah.

- Meinst du, ihr habt miteinander geschlafen?

- Nicht wichtig. Wichtig ist, dass wir uns mit der Zeit auseinander geliebt haben. Ich habe es gewusst und gesehen, dass sie mich immer noch liebt, aber sie ist davon geflohen, und ich habe sie schließlich verloren.

- Siehst du! Es ist doch wichtig mit dem Schlafen. Du hast mir früher darüber zwar nichts erzühlt, aber die Geschichte ist alt. Die erste Liebe! Die Liebe von Siebzehnjährigen. Sie hatte noch nie ein glückliches Ende. Sie kommt einfach zu früh, vergammelt in ihrer Aussichtslosigkeit und hinterlässt nur unverdiente Schmerzen, unbegründete Komplexe und schwer heilende Wunden.

- Warum Aussichtslosigkeit und wie kann die Liebe vergammeln?

- Die erste Liebe ist aussichtslos, weil sie folgewidrig ist und sich deswegen nicht entwickeln kann. Und alles Lebende, was sich nicht mehr entwickelt, ist tot. Und alles Tote vergammelt! Diese Liebe explodiert, zerfleischt unsere siebzehnjährige Seele und bleibt dann wie ein Explosionsrauch in der Luft hängen. In dem Alter ist ein Junge noch nicht reif genug eine folgerichtige Entwicklung seiner Liebe zu verantworten. Sie hat das gewusst und ist zurecht davon geflohen. War wohl ein kluges Mädchen!

- Klug war sie allemal, aber was heißt schon folgerichtig oder folgewidrig. Ich habe mich schon reif genug gefühlt.

- Reif genug für was? Für Sex? Die Liebe ist eine nur menschenspezifische Anziehungskraft zwischen zwei Geschlechtern. Weniger menschenspezifisch ist die Folge dieses Geschlechtertriebs - die Familienbildung, denn dies machen viele Tierarten auch. Und schon gar nicht menschenspezifisch ist die nächste Folge - die Paarung zwecks der Kinderzeugung als ein totales und allermächtigstes Naturgesetz der Fortpflanzung.

- Die Fortpflanzung setzt ja den Sex voraus.

- Nein! Diese setzt lediglich einen Samenaustausch - bei manchen sogar ohne Geschlechtsverkehr - voraus. Der Sex an sich ist ein ebenfalls menschenspezifischer, lustbefriedigender und damit ebenso folgewidriger Extrakt aus der Fortpflanzungskomplexität. Die Verpflegung und der Schutz von gezeugten Kindern gehören sogar zum größten Teil dieses Naturtriebes. Kein junges, aber schon geschlechtsreifes Tiermännchen kommt zum Geschlechtsverkehr mit einem seiner artgleichen Weibern, ehe er den starken Alten besiegt und damit seine echte Reife zur Kinderzeugung, zu ihrem Schutz, zu ihrer Verpflegung und Erziehung bewiesen hat. Du hast sie nicht überzeugt der letzten Aufgabe gewachsen zu sein, wenn du ihr sogar entsprechende Angebote gemacht hast, was ich übrigens auch kaum glaube.

- Aus der Schulbiologie ist es mir irgendwie geblieben, dass sich die Tiermännchen auch dieser Aufgabe entziehen.

- Nicht alle! Nur die primitivsten Arten wie bei Menschenmännchen und manchmal sogar Menschenweibchen auch. Denn diese zweite Aufgabe lässt sich nur durch die Rollenverteilung und Zusammenwirkung in den mehr oder weniger hoch entwickelten Sozialstrukturen wie Familie, Rudel, Stamm, Sozialgesellschaft am effektivsten erfüllen.

- Und du meinst, ich war dieser Sozialaufgabe damals nicht gewachsen?

- Sie hat das bestimmt gemeint. Ich meine, nicht nur du warst dieser Aufgabe nicht gewachsen, sondern keiner ist es in diesem Alter. Es ist noch eine menschliche Paradoxie, dass die Kluft zwischen der Geschlechtsreife und der Sozialreife von Menschenkindern immer weiter wächst.

- Im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren mit jemandem Geschlechtsverkehr haben und auch gebären können, aber nur im gesetzlich vorgeschriebenen Alter von achtzehn Jahren heiraten und wählen dürfen?

- Eben! Wobei diese sowieso willkürlich festgelegten Achtzehn schon längst keiner Realität mehr entsprechen. Die Wissenschaft und die Technik, welche unsere Gesellschaft früher nur bedienten, entwickeln sich im zwanzigsten Jahrhundert so rasant, dass die beiden die Gesellschaft mittlerweile formen und führen, so dass diese Gesellschaft selbst nicht mehr weiß, wie und wohin! Früher schaffte es die Gesellschaft noch immer sich und die diese Gesellschaft bildenden menschlichen Verhältnisse der gemächlich laufenden Entwicklung anzupassen. Heute hat die Gesellschaft durch natürliche Trägheit menschlicher Verhältnisse gar keine Zeit dafür. Sie kommt mit ihren alten Sitten, Bräuchen und Sozialstrukturen nicht mehr zurecht, muss improvisieren und verliert immer mehr an ihrer Menschlichkeit und an der humanen Sozialreife. Aus diesem dich etwas freisprechenden Gesichtspunkt sind heutzutage nicht nur die Siebzehnjährigen, sondern auch manche Siebzigjährigen nicht mehr sozialreif genug, um ihren Nachkommen durch die Erziehung irgendwelche langfristigen Lebensanhaltspunkte für die Zukunft zu geben.

- Du hast mich wieder - wie immer - in ein tierisches und menschliches Dickicht geführt. Meine Frage war ja lediglich, welche von den beiden Frauen ich heiraten soll - die, mit der ich seit einem Jahr befreundet bin und die du auch kennst, oder diese Erste, die ich vor kurzem begeistert wieder getroffen habe?

- Soll ich zwei Streichhölzer zum Ziehen präparieren?

- Nein, so ist es nicht! Die Eine liebe ich dafür, dass sie so schön und lustig ist, aber die andere liebe ich auch, und zwar dafür, dass sie so klug und zärtlich ist und außerdem meine erste Liebe gewesen war. Was sagst du dazu?

- Heirate keine! - Wenn du mich schon fragst. Denn du liebst in der Tat keine von den beiden. Ich sage ja, dass es keine Liebe zu zwei Frauen gleichzeitig gibt. Heirate nur dann, wenn so eine Vergleichsfrage und überhaupt Fragen "Wofür und wieso?" bei dir gar nicht entstehen, und deine Braut für dich mit keiner Frau der Welt zu vergleichen ist. Und soll sich diese Vergleichsfrage während deiner Ehe erneut mal entwickeln, brich deine Ehe sofort ab und mach dich auf und davon! Allein deshalb, dass du deine Gattin mal geliebt hast und deswegen ihr das nicht antun darfst, geschweige denn euren gemeinsamen, unschuldigen Kindern.

Der Kollege folgte dem Ratschlag des Vaters zu seinem Unglück nicht, heiratete die Lustige, gebar mit ihr eine Tochter, verhasste mit den Jahren seine Gattin, verachtete sie laut und offen, blieb aber trotzdem weiterhin mit ihr zusammen und ging immer wieder zu der ersten Liebe fremd, welche mittlerweile selbst verheiratet war und Kinder hatte.

Vielleicht verkomplizierte der Vater doch schon wieder die Liebe und das Glück in seinen Vorstellungen darüber, und vielleicht er gönnte zu unrecht kein Glück den beiden oder auch mehreren Familien. Denn keiner weiß, durch welche Familien noch in dieser Kettenreaktion die anderen Ehe-Scherben nun fremdirren.

* * *



[1] zur Schizophrenie neigende Veranlagung

[2] rus. "Stukatsch" (стукач)

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