Viktor Eduard Prieb - Literatur
- Prosa
Wettbewerb "Frieden"

Der Preis des Friedens


(Ich wäre meinen Lesern für jede Bewertung und Empfehlung
meines diesen Wettbewerbtextes bei "Friedensblog" sehr dankbar!)


Nachdem ihre Männer in den Krieg einberufen worden waren, blieben die Frauen, die Kinder und die Alten nun alleine im Flüchtlingslager in Polen, um auf ihr Los zu warten. Bald war ihre Westodyssee vorbei. Ohne einen Schritt machen zu müssen, gelangten sie aus dem Dritten Deutschen Reich nach neu entstandenes und zunächst unter sowjetischer Militärverwaltung stehendes Polen - für die deutschen Flüchtlinge aus Russland eine prekäre und verhängnisvolle Lage.

Die Polen mit ihrem übertriebenen Nationalstolz vergaßen und vergaben nie die mehrmalige Aufteilung ihres Landes zwischen Russen und Deutschen in den letzten knapp zweihundert Jahren. Einen Deutschen aus Russland zu erledigen, kam für sie dem Erschlagen eines Russen und eines Deutschen gleich: Zwei Fliegen mit einer Klappe eben zu schlagen.

In dieser Lage war die Mutter eher bereit, mit ihren drei kleinen Kindern zusammenzusterben, als sie, wenn auch nur für einen kurzen Moment, aus den Augen zu lassen. Ihr Mutterinstinkt überwiegte alle anderen Gefühle und jede Vernunft.

Es gab auch seit langem schon keine Vernunft mehr in dieser gerade zusammenbrechenden Welt mit Millionen und Abermillionen von Toten, Verkrüppelten, Verwundeten, Verbannten, Vertriebenen und Flüchtigen. Allein die Tatsache, dass diese entwurzelten, entkräfteten und vergessenen Frauen und Kinder - diese Staubkörnchen mittendrin in einem gewaltigen Sturm - noch am Leben blieben, ging über jede Vernunft hinaus.

Das ist ein Wunder des Menschenlebens: In Situationen, wo jede nur von Menschen geschaffene und nur für Menschen geltende Vernunft versagen und keine Hilfe mehr bieten, greifen Menschen auf ihre tierischen Ursprünge zurück und überleben oft nur dadurch auf einem menschenunwürdigen, tierischen Niveau. Auf so einem Niveau, dass sie danach selbst daran nicht glauben wollen, wie es überhaupt möglich war zu überleben, ohne mal daran zu denken, ob das überleben in so einer Situation überhaupt noch einen Sinn ergäbe und vernünftig wäre.


Nach einigen Wochen des gefährlichen Wartens kam die pauschale Entscheidung des russischen Kommandanten, allesamt nach Sibirien zu deportieren. Sie wurden in Viehwaggons vollgestopft - offenbar das einzige in dieser Zeit den Verantwortlichen als angemessen erscheinende Personenverkehrsmittel für die Verschiebung und Verschleppung von unermesslich und unpersönlich gewaltigen Menschenmassen.

Ihr Leben und das ihrer Kinder waren zunächst gerettet und der Krieg als solcher - mit Amok laufenden Bomben und Panzern - war somit für sie vorbei. Der mehrmonatige unbeschreibliche Leidensweg führte nach Sibirien. Sie fuhren lange und beschwerlich, mit vielen langen Zwischenstopps, mit Hunger, Kälte, Krankheiten und vielen - bis zu dreißig Prozent von zweihunderttausend Verschleppten - unterwegs Gestorbenen.

Der Krieg im Westen ging zu Ende, und der Sieg über Deutschland wurde unter den Alliierten mit der Abmachung besiegelt, den letzten aus der Dreierachse - Japan - nun gemeinsam auf die Knie zu zwingen. Für die Russen bedeutete es, ein Logistikwunder zu vollbringen: Ihr ungeheueres Truppenaufgebot von der sich erledigten Westfront über zehntausend Kilometer in den Osten hinüberzubringen. Alles durch "das Nadelohr" namens "Transsibirische Eisenbahnmagistrale", das zu dieser Zeit durch den irgendwo durch die Endlosigkeit dieser Magistrale kriechenden Viehzug mit der Mutter und mit den Kindern "verstopft" war.

Ihr Zug wurde weggefegt und musste auf irgendwelchen Abstellgleisen so lange warten, bis die Japaner durch diesen gewaltigen Verkehr von Truppen, Maschinen und neuerdings Atombomben - statt bereits als Siegesmethode veralteten Feuerstürmen in deutschen Städten nach ihrer Bombardierung von Englündern und Amerikanern - ebenfalls erdrückt worden waren.

So fuhren sie nach dieser langen Abstellpause direkt in den sibirischen Winter hinein. Sie kamen im voll verschneiten Nowosibirsk bei Frost unter minus dreißig Grad an. Sie wurden hier noch einmal aussortiert und getrennt. Einige wurden in der Stadt als Arbeitskraft für Industriewerke und Fabriken abgeladen, die anderen auf die umliegenden Dörfer verteilt. Die Mutter mit ihren drei Kindern kam in einem Schweinebetrieb als Bedienstete für die Schweine unter und wurde in einer Hütte am Friedhof untergebracht, in der sie nun für den Vater weiter beten und auf ihn weiter warten durfte.

*


Als die Rote Armee ihre Familien in Polen überrollte und diese von Scylla zu Charybdis "rettete", war der Krieg für die Männer noch lange nicht vorbei - für sie begann er jetzt erst richtig.

Für die deutschen Männer aus Russland, die diesen Krieg auf keiner Seite entfesselten, keine ruhmreichen Siege erlebten und keine Sünden und Verbrechen begangen, kam die Zeit, für ihre all dies entfesselten, erlebten und begangenen Landsleute im Dritten Deutschen Reich zu büßen, die Folgen dieses Krieges auszulöffeln und die vernichtende, dem Untergang der ganzen Nation und ihres deutschen Landes gleichkommende Niederlage zunächst aufzuhalten zu versuchen und dann mitzuerleiden.

Viel Auswahl hatten sie dabei auch nicht - entweder in Kämpfen zu fallen oder nach der Niederlage von Stalin als Verräter zur Rechenschaft gezogen zu werden. Umso mehr, da sie in seinem Erlass vom 28. August 1941 als "sowjetische Bürger der deutschen Nationalität" schon im voraus zu Spionen und Verrätern abgestempelt und zur Verbannung verurteilt worden waren.

Unter diesen aussichtslosen Bedingungen hatte der Vater sein der Mutter gegebenes Wort zu halten, zu ihr durch die Hölle durchzukommen. Und er tat und machte alles dafür mit all seinem Überlebenstalent und mit seiner ganzen Überlebenserfahrung.

Vaters Einheit kämpfte unter vielen anderen restlichen Wehrmachteinheiten in einem immer schmaler und schmaler werdenden Korridor zwischen zwei vom Osten und vom Westen zusammenrückenden Fronten - in der Mäusefalle, die vom Tausendjährigen Dritten Deutschen Reich zu der Zeit - nach zwölf Jahren seiner Existenz - noch übrig blieb. Auf diesem Wege traf der Vater den Mai 1945.

Der unterirdische Irreführer nahm endlich Abschied sowohl von seinem "ihm unwürdigen" deutschen Volk, das er total ausgerottet, in verdammten Verruf gebracht, der Rache und den Abrechnungen der anderen Völker für ewige Zeiten ausgeliefert hatte, als auch von seinem deutschen Land, das er in die Hölle irregeführt und in einen Scherbenhaufen und in eine vollkommene Ruine verwandelt hatte. Etwas zu spät kam leider dieser Abgang für das deutsche Volk und für das deutsche Land.

Jetzt galt es nicht nur für den Vater, der es ohnehin lebenslang übte und tat, sondern auch für jeden Einheimischen, sich selbst um das eigene Leben, um das eigene Schicksal und um alle anderen menschlichen Angelegenheiten zu kümmern, was nämlich zu den normalsten Menschenpflichten und primitivsten Lebensfreiheiten eines jeden Menschen gehört.

Zu den Pflichten gehört, die von "Deutschländern" vor zwölf Jahren bestimmt aus Versehen - wahrscheinlich in ihrer naiven Hoffnung, die nächsten tausend Jahre endlich sorglos leben zu dürfen - an diesen Führer delegiert worden waren. An einen Mann, der nie ein Ehemann, nie ein Vater und - man kann sogar denken - nie ein Sohn war und sonst auch nichts Vernünftiges in seinem Leben selbst bewerkstelligte, um den Kindern, Müttern und Vätern anderer ihre Sorgen abzunehmen.

Als erstes nach dieser Verantwortungsübernahme beendete der Vater eigenhändig seinen Krieg, seinem der Mutter gegebenen Wort treu folgend. Auf einem Fußmarsch meldete er dem Offizier seine durch schlecht umwickelte Fußlappen bis zu Blutblasen geschlagenen Füße, die er dringend umwickeln müsse. Dagegen war nichts einzuwenden: Ein Soldat mit kaputten Füßen ist auf einem Marsch noch schlimmer als gar keiner.

Er ließ sich am Straßenrand nieder, zog seine Stiefel aus und wickelte langsam die Fußlappen um, bis seine Abteilung hinter dem nächsten Hügel verschwand. Dann ließ er seine Waffen liegen und lief in den nah liegenden Wald hinein. Der Vater lief durch den Wald und stieß bald auf ein Försterhaus. Er musste dem alten Förster nichts vormachen und nichts lange erklären. Der Spuk war für jeden vorbei, und es galt für jeden nur noch, sich selbst zu retten und einander dabei womöglich zu helfen.

Er bekam von dem Förster einen alten, etwas zu engen und zu kurzen Zivilanzug und alte Schuhe. Seine schwarze SS-Uniform - dem Förster war auch angst und bange davon, trotz aller Stoffqualitäten, Gebrauch zu machen - vergrub der Vater unter dem nächsten Baum samt all seiner Papiere, Fotos und sonstiger Kleinigkeiten, die seine jüngste Vergangenheit verraten könnten. Er wurde zu einem Niemand, aus einem Nirgendwoher, in einem Nirgendwo namens Ex-Deutschland.

Der Vater wusste bereits aus dem Briefwechsel mit seiner Schwester, dass seine Familie mit allen in Polen hinterbliebenen Flüchtlingsfamilien unterwegs nach Sibirien war. Sein Plan war so einfach wie auch gefährlich: Die vordersten russischen Kampftruppen vorbeiziehen zu lassen und dann - wie versprochen - zu seiner Familie nach Osten zu gehen, wo immer sie dort auch sein möge. Hauptsache - die Richtung war vorbestimmt. Was er dann später erfuhr, bestätigte nur zusätzlich seine Entscheidung.

All diejenigen, die politisch und historisch an diesem Krieg schuld waren, diesen Krieg provozierten, ihn nicht verhinderten, ihn entfesselten und führten, rechneten jetzt mit den Soldaten ab, die sie aus ihren politischen Überlegungen und zur Gloria der Weltpolitik ins gegenseitige Abschlachten - wie immer den Dreck und das Blut jeder misslungenen Politik in Kriegen auszulöffeln - schickten. Diese Abrechnung kam dabei von allen Seiten.

Angesichts dieser Abrechnungen erwies sich die damals fast verrückt erscheinende Entscheidung des Vaters, nach Osten zu gehen, doch als die einzig richtige, die ihn rettete. Der Vater nutzte seine winzige Chance besser als seine Kameraden, weil er sich wieder mal von Massen und Herden trennte und sich nicht auf Deutsche, Amerikaner, Briten, Franzosen, Russen und nicht einmal auf den allmächtigen, aber zur Zeit abwesenden Gott, sondern nur auf sich selbst verließ.

*


Zunächst ging es aber in die Gefangenschaft. Der Zielort war unbekannt. Die Reise mit mehreren langen Zwischenstopps, mit Hunger, Kälte, Krankheiten und mit unzähligen Toten dauerte bis in den Spätherbst. Es wurde auf einmal weiß draußen und immer kälter. Hungernde und frierende Menschen starben wie Fliegen im Herbst. Ihre Leichen wurden beim nächsten Halt von den Kameraden-Gefangenen gleich hier, an den Gleisen, auf die schnelle begraben.

Ende Oktober kam der Zug in eine Stadt am Ural an. Der eisige Wind und Frost machten den erschöpften Aussteigenden sehr zu schaffen. Weiter ging es im Fußmarsch. Erst zum Abend hin, schon in der Dunkelheit, erreichte ihre Kolonne das mit Stacheldraht und Wachtürmen an jeder Ecke umzäunte Konzentrationslager. Ihr Endziel. Der Vater schaffte es wieder, seine nächste Lebensstation erschöpft, aber immer noch lebend zu erreichen.

Nach zwei Jahren mörderischer KZ-Arbeit bestimmten die NKWD-Henker dem Vater seinen Verbannungsort und sie waren dabei sogar großzügig: Sibirien ist ja sehr groß und fast gleichmäßig dem normalen Menschenleben fremd. Daher war es den Vollstreckern schließlich egal, wohin mit dem Vater und sie schickten ihn dorthin, wo seine Familie, bereits seit mehr als zwei Jahren auf ihn wartend, in einer deutschen Sondersiedlung krepierte.

Seine drei Jahre andauernde Kriegsodyssee ging endlich zu Ende und der Vater stand unmittelbar davor, seine Familie wieder zu sehen. Im Frühwinter 1947 kehrte er, wie versprochen, zu seiner Familie "nach Hause" - zurück.

Es passierte eines dunklen, frostigen Abends. Die Mutter mit allen Kindern hauste in der fast bis zur Hälfte in die Erde eingewachsenen Holzhütte am Friedhof. Sie waren alle zu Hause. Die Mutter kochte irgendeine Brühe auf dem Feuer im Ofen, die Kinder warteten gierig und ausgehungert auf das Essen.

Die Tür der Hütte ging voll auf und etwas Ungeheuerliches kroch in die Hütte herein

- Na, Guten Abend euch allen zusammen. Da bin ich wieder - begrüßte der Vater seine Familie so routiniert und dadurch so beruhigend, als ob er erst früh morgens zur Arbeit wegging und jetzt spät abends von dieser zurückkehrte.

Er hatte gerade einen achtzehn Kilometer langen Fußmarsch von der Eisenbahnstation, eine Gulag-Hölle, einen Weltkrieg, eine reichliche Weltreise und knappe vierzig Jahre seines ihn vernichtenden Lebens hinter sich.

Die Mutter stand da wie durch einen Donnerschlag gelähmt. Die Tochter und der ältere Sohn, die sich noch mehr oder weniger an den Vater erinnern sollten, drückten sich mit breit aufgeschlagenen und neugierigen Augen dicht an die Mutter, sich mühsam an den Vater erinnernd.

Nur der jüngere, vom fremden Ungeheuer keinen blassen Schimmer verspürende Sohn versteckte sich und weigerte sich den ganzen restlichen Abend stursinnig, seinen Versteck zu verlassen. Am Ende des Abends und ab nun für immer musste er noch oben drein diesem Fremden seinen Platz in Mutters Bett überlassen, wo er sich die ganze Zeit so heimisch, gemütlich und verborgen fühlte.

Er schien auch später, diese Vertreibung aus seinem Paradies dem Fremden nie verzeihen zu können, und nur sie beiden konnten bis Vaters Tod nicht mehr so richtig zueinander finden. - Das Schicksal und das Trauma von vielen Kriegsfamilien, deren Väter nach ihrer jahrelangen Kriegsarbeit und ihren Kriegsgefangenschaftsodysseen zu ihren zwischendurch im Krieg geborenen und manchmal nie gesehenen Kindern zurückkehrten.



Die tausendjährigen Reiche verschwinden blitzschnell und spurlos von der Erdfläche; die großen wie auch die kleinen Führer kommen und gehen, einander samt unzähliger Millionen Menschen als Beilage auffressend; die verheerenden Kriege enden und beginnen sofort wieder, heiß oder kalt serviert, und alles vergeht!

Nur die Menschheit - der aus unzähligen Zellen bestehende Schimmel auf der Erde - bleibt merkwürdigerweise, trotz all dieser kannibalischen Bacchanalien, weiterbestehen und pflanzt sich dessen unbeachtet und unaufhaltsam fort. Vielleicht gerade deswegen nimmt die Weltpolitik - was das auch immer bedeuten mag und wer sie auch immer betreibt - keine Rücksicht auf ein einzelnes Menschenleben ebenso wie auf mehrere Millionen davon.


Wie dem auch sei, die Familie überlebte Es, aber auch sie bezahlte ihren Preis. Und so - durch alle seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts passierenden und zu mehreren Weltkataklysmen führenden Ungereimtheiten - wurde ein Verbannungseckchen der Erde am Arsch der Welt bis zu ihrem Lebensende zu ihrem "Zuhause", wo sie noch mehrere Jahre unter der Kommandanturaufsicht als allerletzte Drecksverbrecher behandelt werden sollten.

Trotz alledem bekam der Vater in späteren Jahren immer mehr das Gefühl, seinen stillen Lebenshafen endlich gefunden zu haben, während die Mutter ihre Sehnsüchte pflegte und sowjetische wie deutsche Führer allesamt für ewige Zeiten verdammte, die der Familie das angetan und so ein Schicksal beschert hatten.

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