Woher stammen treue Frauen und Mütter oder über den Nachtigallenschlag und über die anderen Zug- und Nichtzugwesen Der Zug hielt in Smolensk. Als der Zug aus der Stadt hinausfuhr, ging der Vater in den Korridor, machte das Fenster auf und rauchte. Hier in dieser Gegend war seine Mutter geboren worden und von hier war sie - noch als junges Mädchen - in die Kohlengruben von Donbass gefahren, um dort in Stalino seinen Vater kennen zu lernen. Und jetzt fuhr er an dem Ort vorbei, wo er noch nie gewesen war. Und somit schloss sich noch ein Kreis des ewigen Drehens. Und ein anderer fing an, denn hier - gleich hinter der weißrussischen Grenze und vielleicht nur fünfzig Kilometer vom Geburtsort seiner Mutter entfernt - war die Mutter seiner Töchter und seine Frau geboren worden. Seinetwegen dürften ruhig alle Mütter und Frauen der Welt zu Gunsten ihrer Kinder und ihrer Ehemänner auch hier geboren werden. Seine Frau schlief jetzt sorglos nebenan, weil er ihr ihre Sorgen genommen und in seine Hosentasche gesteckt hatte. Ob es ihm dort drüben mit der gleichen Leichtigkeit gelingt? Hinter dem Fenster des Zuges wurde etwas heller - der Morgen ergraute nach der kürzesten Nacht des Jahres. Die vom an die Gräser gefallenen Tau feuchten Felder und Wiesen schimmerten im Lichte des Morgenrots. Und gleich wurde es immer lauter in den vorbei schwebenden und immer noch dunklen Wäldern - die Nachtigallen. Das gehörte auch mal zum Repertoire des Vaters zum Thema, wie schön es in der Ukraine gewesen war, wo der Nachtigallenschlag - wie der Duft von Veilchen in der Nacht auch - hätte einen ebenfalls verrückt machen können. In Sibirien hatte es keine Nachtigallen und überhaupt keine Singvögel gegeben. In Sibirien war es sogar den Vögeln nicht nach Singen zumute gewesen. Und mit Menschen dort zu überwintern, hatten es nur kleine - unscheinbare wie Nachtigallen auch - graue Spatzen gewagt. Sie hatten aber auch ihren mörderischen Tribut für ihre Treue gezahlt. Wenn die Lufttemperatur draußen unter minus vierzig Grad gesunken hatte, hatten sie regungslos auf den Stromleitungen und nackten Ästen gesessen, ihr Gefieder so weit es gingzerzaust, um etwas länger ihre Körperwärme durch das dickere Luftpolster aufzubewahren, und waren hin und wieder - wie kleine Steinchen - todgefroren auf die verschneite Erde niedergefallen. Die Überlebenden hatten sich aber dann im Sommer dort in Sibirien zurecht zu Hause gefühlt, sich für jedes Körnchen oder Brotkrümelchen mit jedem der Zugvögel angelegt, von deren Größe dabei ganz abgesehen. In Sibirien hatte man Menschen, die ihren Wohnsitz öfter wechselten - freiwillig wohlgemerkt - abwertend auch "Zugvögel" genannt... Der Vater traf danach Spatzen auf seinen Reisen überall - wie im Norden, so auch im Süden. Und überall betrachtete er diese Spatzen wie seine Lands..., was soll man da sagen: Landsvögel oder besser - wie seine treuen Landskumpels, und freute sich auf ein Wiedersehen mit ihnen in der Fremde. Zu diesem Treubild gehörten bei dem Vater auch die Wölfe - die klugen, familientreuen, alle gegen sie organisierten Jagden überstandenen, durch die sibirischen Winter ebenso abgehärteten und ebenso grauen Geschöpfe der wilden Natur. Die Nachtigallen sangen das Abschiedslied und machten den Vater, wenn nicht ganz verrückt, dann mächtig sentimental. Er lief ins Abteil und weckte die Mutter. Sie standen dann lange vor dem geöffneten Wagenfenster, einander umarmend, hörten sich diese Liebeslieder an, fühlten sich ganz wie ein junges Pärchen und verspürten dadurch neue Hoffnung und einen Schimmer Freude auf ihr neues, künftiges Leben. Dann kehrten sie wieder ins Abteil zurück, um doch auszuschlafen. |