Viktor Eduard Prieb - Literatur
- Prosa
Aus meinem im November 2021 verlegten Buch
(hier als PDF-Datei):
"Die Schließbarkeit des Kreises oder die zweihundertjährige Reise“. Teil 1: Der Zug fährt ab, Roman, 348 S.
ISBN (978-620-0-52043-2



Die Eltern und der Zweite deutsch-russische Krieg
oder über den Höhepunkt und die Agonie [1] des Dritten Deutschen Reiches



Das kommunistische und das faschistische Reich
oder darüber, wie man wieder zum Bauern wird und
wie man in die Heimat zurückkehrt


Der jüngste Bruder musste weitergehen. Er ging nach Norden und gelangte in Stalino [2] im Donbass. Dieses "Ruhrgebiet" der UdSSR, auch nach einem kleinen Fl?sschen namens "Donez" [3] genannt, bot genug Arbeit in den Kohlengruben und um diese herum. Er erlernte den Beruf des Maurers und baute seitdem Wohnhäuser für immer neue aus den aushungernden Dörfern des ganzen von Bolschewiken auf den Knochen und auf dem Blut der Opfer ihres Terrors neu geschaffenen und "die UdSSR" genannten russischen Reiches strömende Untertagearbeiter.

Dort lernte er die Mutter kennen, die ihn an seiner Baustelle als Bauhelferin mit Mörtel und Steinen bediente, nachdem sie ein Jahr lang die Kohlenloren untertage geschoben hatte, und wurde zu dem Vater. Dort erwischte den Vater mit seiner neuen, inzwischen aus einer Tochter und der wieder schwangeren Frau bestehenden Familie der Zweite deutsch-russische Krieg.

Mit dem Ausbruch des Krieges kamen bei den noch am Leben gebliebenen deutschen Kolonisten neue Hoffnungen auf. Diesen machte Stalin aber mit seinem Erlass vom 28. August 1941 über die Umsiedlung (Deportation) der Deutschen, die in der Wolgagebiet lebten, erneut einen Strich durch die Rechnung. Diesem Erlass folgten kurz danach weitere Verfügungen von NKWD über die Deportation aller deutschen Volksgruppen, die in westlichen Gebieten der UdSSR auch ohne solchen Autonomiestatus lebten, wie die Deutschen auf dem Territorium der Ukraine. Nach diesem Erlass wurden alle in der UdSSR lebenden Deutschen pauschal und präventiv - nur aufgrund ihrer Nationalität - zu Verrätern ihrer "sowjetischen Heimat" und zu Diversanten und Spionen Deutschlands erklärt und zur Vernichtung verurteilt.

Dem Erlass zufolge wurden alle kompaktlebenden und noch nicht in die deutsche Besatzungszone geratenen Deutschen - angefangen von Einwohnern der somit aufgelösten Autonomen Deutschen Wolgarepublik, nur das Nötigste eingepackt und mitgenommen, in Eisenbahnviehwagen vollgestopft und binnen vierundzwanzig Stunden hinter den Ural verbannt. Die meisten Männer im arbeitsfähigen Alter, wie auch viele ihre Frauen, wurden dabei in die speziellen und bereits erwähnten Zwangsarbeitslager namens "Trudarmee" zusammengetrieben. Ihre dadurch verwaist gebliebenen und noch nicht arbeitsfähigen Kinder wurden in Kinderheime zusammengefegt.

Die in den Städten und der Zerstreuung lebenden Deutschen hatten mehr Glück. - Es blieb angesichts der Blitzschnelligkeit der anrückenden deutschen Truppen kaum noch Zeit diese verurteilten Deutschen zu jagen und aufzufangen. Für alle Fälle versteckte sich der Vater für ein paar Wochen in der Stadt. Zwei Tage vor dem Einmarsch der Deutschländer in die Stadt, welche von der Roten Armee bereits vor einer Woche verlassen worden war, brachte die Mutter den ersten Sohn zur Welt, welcher - selbstverständlich - mit dem Namen des neuen Reichsführers beschert und dann bei den neuen deutschen Behörden unter diesem Namen registriert wurde.

Dann kam die Neue Ordnung des Dritten Deutschen Reiches. Nach dieser Ordnung durfte jeder ein neues oder jeweils sein altes, von Bolschewiken expropriiertes Stück Land bekommen und bewirtschaften.

Von seinem alten Land wollte der Vater nichts mehr wissen. Erstens hatte er davon ein Stück bereits von Lenin zurückerhalten, und es saß ihm noch gut in Erinnerung, was daraus geworden war. Zweitens hatte er noch als Kind im Bürgerkrieg erlebt und gelernt, wie vorübergehend alle in einem Krieg geschaffenen Republiken, Staaten, Reiche und Ordnungen sind. Dabei war jeder auch damals bei jedem Ordnungswechsel zur Rechenschaft gezogen worden.

"Ein Land ist überall ein Land!" - meinte der Vater und kam, sich an das negative Beispiel seines Vaters erinnernd, zum folgenden Schluss:

"Je weniger man in diesen stürmischen Zeiten an sein Land gebunden ist, desto leichter und schneller kann man es im Fall der Fälle aufgeben und sich retten."

Seine Hoffnung war es auch, nicht die alte Ordnung in deutschen Kolonien durch die Neue Ordnung des Deutschen Reiches wiederherzustellen und erneut zu genießen, sondern den Fehler seines Vaters, welcher so viele Opfer zufolge hatte, zu korrigieren und endlich nach sein Mutterland Deutschland zurückzukehren.


Nachgrübeln über die Heimat und das Vaterland
oder darüber, wohin und warum man fliehen soll


Der Gedanke über die Rückkehr nach Deutschland hatte sich als Erbe noch seit dem Bürgerkrieg in Vaters Bewusstsein verankert, als viele deutsche Kolonisten diese einzig reale Rettungsmöglichkeit hatten schwer in Erwägung ziehen müssen und viele von diesen Vielen einschließlich seines Vaters, die anrückende Katastrophe unterschätzend, diese Möglichkeit damals doch nicht genutzt hatten. Jetzt, als diese Möglichkeit wieder real wurde, versuchte der Vater selbst zu begreifen, was Deutschland eigentlich für ihn bedeutete. Seine Heimat und Vaterland war Deutschland für ihn nicht, aber Russland war es auch nicht und schon gar nicht die neue, monströse UdSSR.

Bei den Begriffen "Heimat" und "Vaterland" dachte er eher an seine glückliche Kindheit auf dem Landgut seines Vaters mit Weizen- und Roggenfeldern ohne Ende in Taurien: Einem riesigen Steppengebiet Südrusslands mit vielen Landgütern, Siedlungen, Städtchen, welche nach dem Muster von Dörfern und Städtchen Deutschlands aufgebaut und organisiert worden waren.

Die deutschen Kolonien mit der deutschen Ordnung, Architektur, Kultur, Sprache und sogar mit einem ähnlich wie in Deutschland sanften Klima. Und doch anders: mit viel mehr Himmel, viel mehr Boden, sogar mit viel mehr Reichtum und Freiheit als in Deutschland. Und mitten drin Prischib mit dem Stadthaus, mit dem weißen Flügel und mit den Abenden im Kreise von russischen Offizieren der Weißen Garde.

"Wo sind sie jetzt?" - kam dem Vater der noctalgische Gedanke.

Diese Kolonien waren für ihn seine Heimat und sein Vaterland. Dort, auf dem evangelischen Kirchhof, lagen sein Vater und sein Großvater. Sein Urgroßvater, der zur Napoleonischen Zeit im Jahre 1804 aus Württemberg - das Erste Deutsche Reich hatte bereits vor seinem Verschwinden in der Agonie gelegen, und das Zweite sowie das Dritte Deutsche Reich oder überhaupt Deutschland in diesem Sinne hatte es noch gar nicht gegeben - ausgewandert und somit so eine scharfe Kurve in den Verlauf der Familiengeschichte eingefahren hatte, ruhte auf dem Friedhof in Hoffental: In einer von ihm im Tal seiner neuen Hoffnungen angelegten Siedlung in der Nähe von Prischib, unter einem gusseisernen Grabmal mit dem Auswanderungsdatum unter den üblichen Inschriften.

"Wo sind jetzt diese neue Heimat und dieses neue Vaterland, wo drei Vätergenerationen begraben liegen, und die damaligen neuen Hoffnungen geblieben?" - grübelte der Vater mit Heimweh weiter nach.

Die deutschen Kolonien Südrusslands waren nicht die von deutschen Soldaten eroberten Kolonien, die dem Muterland Deutschland zugute kamen und in Deutschland bekannt waren. Dies waren die von der großen deutschen Kaiserin Russlands im Jahre 1774 bei Osmanischem Reich eroberten und deutschen Bauern im Jahre 1804 von dem Zaren Alexander I. - dem späteren Sieger über Napoleon - per Manifest geschenkten Steppengebiete im Süden des Russischen Reiches - die sogenannten Schwarzmeergebiete. Diese wilden und nie geackerten Steppen waren von diesen deutschen Bauern kultiviert und fruchtbar gemacht worden und kamen als die Kornkammer Europas vor allem Russland zugute.

Für dieses so schwer mit Schweiß und Fleiß geschaffene Vaterland, für ihr Hab und Gut, für ihre Familien kämpften seine deutschen Verwandten im Ersten Weltkrieg - einem für sie wie schon gesagt sinnlosen Bruderkrieg. Die meisten Soldaten-Deutschländer, ihre Kriegsgegner, hatten vor dem Krieg vielleicht gar nicht geahnt, dass es so etwas wie deutsche Kolonisten in Russland überhaupt gibt. - So wie die meisten in Deutschland auch heute noch keine Ahnung davon haben, dass es so etwas gab, und dass es deshalb heute noch Deutsche auch außerhalb Deutschlands gibt.


Brüder-Gegner
oder darüber, warum man Geschichte lernen soll,
bevor man in den Krieg zieht


Einer aus Vaters Verwandtschaft war in diesem Bruderkrieg als Artillerieoffizier mit seiner Batterie an dem Brusilow-Durchbruch und an der darauffolgenden kurzzeitigen Offensive beteiligt. Nach einer gewonnenen Schlacht musste er seine Batterie nach vorne bringen. Er ging durch den von toten und verwundeten östereichisch-deutschen und russischen Soldaten überfüllten Wald, um eine neue Position für seine Batterie zu orten, und stieß auf einen schwer verwundeten deutschen Unteroffizier.

- Kann ich Ihnen mit irgendetwas behilflich sein? - fragte er vornehm.

- Sanitäter! Bitte schicken Sie mir Sanitäter, ich sterbe. - flehte ihn die schwache, klagende Stimme des Verwundeten.

Der Offizier rief die Sanitäter her und blieb, auf die Sanitäter wartend, stehen.

- Woher sprechen Sie so gut Deutsch? - fragte plötzlich der verletzte Unteroffizier.

- Ich bin Deutscher. - war die ruhige Antwort.

- Wie Deutscher?! - staunte der Verletzte - Warum, zum Teufel, kämpfen Sie dann gegen uns? - das blasse Gesicht zeigte seine äußerste Aufregung.

- Weil ich Offizier der Russischen Armee bin, mein Land in Russland habe und auf diesem Lande geboren bin.

Die Sanitäter kamen, und er ging weiter.

"Das arme Schwein stirbt für sein Reich auf dem Boden des Russischen Reiches und kennt dabei weder eigene Geschichte noch die Geschichte seines Gegners. - grübelte der deutsche Offizier der Russischen Armee nach, durch den Zwischenfall ebenfalls betroffen und aufgeregt, - Wofür kämpft er denn überhaupt hier? Wenn ihm in seiner Heimat das Land fehlt, hätte er zu uns in unsere Kolonien kommen können. Wir haben reichlich davon und kaufen für die Neuankömmlinge immer neues Land, falls es doch nicht reicht."

Er selbst wusste, warum und wofür er kämpfte. Er wusste es damals und wusste es auch später im Bürgerkrieg, der für ihn als Weißgardisten ebenfalls im Ausland endete, und zwar in Deutschland - in Berlin.

Das wussten vielleicht noch die russischen Kosaken, welche freie Bauern waren, ihr eigenes Land auch besaßen und auf diesem das Getreide anbauten: Das bindet an. Sonst wusste das kaum einer der russischen oder der deutschen oder noch irgendwelchen in diesem Krieg beteiligten Soldaten und nicht jeder von ihren Offizieren.

Die Frage war nicht gegen wen kämpfen, sondern wofür kämpfen. Dies wurde deutlich im Bürgerkrieg, welcher diese Frage stellte und klar beantwortete. Hier kämpften die Russen wie die Deutschen - all diejenigen, die etwas besaßen, - gegen die Russen und all diejenigen, die nichts besaßen und das, was sie nicht besaßen, den Anderen wegnehmen wollten.

Der Bürgerkrieg wurde nicht von den deutschen Kolonisten und russischen Kosaken verloren. Er wurde von professionellen russischen Offizieren der Weißen Garde verloren, welche für ihre Privilegien, ihre Ehre und für die Russische Krone als professionelle Söldner so lustlos diesen Krieg führten. Diese Söldner verloren den Bürgerkrieg, weil sie mit ihren Privilegien, ihrer Ehre und ihrer Professionalität ihrem Land entwurzelt waren. Die Ehre und die Privilegien kann schließlich ein S?ldner auch in jedem fremden Lande erkämpfen, wie es auch deutsche Söldner schon immer in der Geschichte bewiesen [4].

Als den deutschen Kolonisten nach der Revolution und nach dem Bürgerkrieg alles weggenommen worden war, war alles vorbei: Keiner von ihnen hätte aus Überzeugung gegen ihre deutschen Brüder, gegen die Deutschländer im Zweiten Weltkrieg gekämpft, welchen der Georgier Stalin auf der russischen Seite so großmäulig zum Vaterlandskrieg erklärte. Nicht umsonst verfasste Stalin seinen berüchtigten, tödlichen Deportations- und Vertreibungserlass gegen alle deutschen Kolonisten. Er wusste genau, wie schwer und kompliziert er in all diesen Jahren diese Vaterlandsfrage für die deutschen Kolonisten gemacht hatte.


Die dritte Abfahrt
oder über die Zeit zum Philosophieren, zum Siegen und zum Verlieren


Also war Deutschland weder Heimat noch Vaterland für den Vater. Nichtsdestoweniger war Deutschland sein - als solches jedes Deutschen - deutsches Land, welches in anderthalbtausend Jahren seit der Völkerwanderungszeit mit Schweiß und Blut seiner deutschen Vorfahren - also mit seinem deutschen Blut und Schweiß - reichlich begossen worden war und wo Abertausende von Vätergenerationen und seinen Familienmitgliedern begraben liegen.

Seine Vorfahren, welche an den Entstehungswehen und der Entwicklungsgeschichte einer der vornehmsten europäischen Kultur teilgenommen hatten, nahmen dann diese entwickelte Kultur ins fremde Land mit! - Wie Kinder, die bereits im Mutterleib eine Menge entwickeln und in die Welt mitnehmen. Dann ist es das Mutterland Deutschland für sie alle, genauso wie für alle Deutschen in Kolonien Deutschlands oder einfach überall auf der Welt.

"Das wäre eine interessante philosophische Übung, wenn ich es mal satt und warm habe, und mein Leben sowie das meiner Familie nicht ständigen Gefahren ausgesetzt ist!" - schloss der Vater seine Überlegungen ab - "Ich komme irgendwann darauf zurück, wenn ich überlebe, wenn diese Frage dann immer noch stehen wird, und wenn sich diese Bedingungen zum Philosophieren irgendwann erfüllen."

Er bekam nie mehr derartige Gelegenheit, auf solche so hoch gestellten Fragen zurückzukommen.

Er kehrte nach Blumenort in der Nähe von Prischib zurück, wo ihm ein Stück Land wiederum zugeschnitten wurde. Er wurde wieder zu einem Bauern. Ein Bauer sät im Frühling und erntet im Herbst. - So einfach ist dieser ewige Beruf. So schaffte es auch der Vater im ersten Jahr. Im nächsten Jahr säte er im Frühling aus, aber ernten - wenn überhaupt - sollte schon jemand anderer, wohl ohne gesät zu haben.

Dazwischen kamen nämlich die Sommerkampfhandlungen des Jahres 1943 mit der unglücklichen Panzerschlacht bei Kursk und Orel. Die bereits bei Moskau und Stalingrad zurückgeschlagene und ins Stocken geratene Offensive der deutschen Wehrmacht schlug nach dieser schweren und ebenfalls verlorenen Schlacht in den seitdem nicht mehr aufzuhaltenden Rückzug um.

Der Krieg erreichte seinen zum Knickpunkt gewordenen Höhepunkt und war bereits verloren. Die glorreiche deutsche Expansion durch "Drang nach Osten" war vorbei und verwandelte sich in ein weniger glorreiches Schrumpfen des Dritten Deutschen Reiches bis zu seinem entgültigen Kollaps.

Der Gegendrang der Sowjets nach Westen begann. Diejenigen, die in diesem Dritten Reich bleiben wollten, sollten dessen zusammenrückenden Grenzen folgen. Die östlichen Reichsgrenzen stellten seit inzwischen vier Jahren - sowie die westlichen Grenzen in einem Jahr danach auch - brennende, donnernde und sehr bewegliche Frontlinien dar. Als die ersten gehörten zu diesen "Denjenigen" die Volksdeutschen aus deutschen Kolonien in Russland, dann in allen anderen östlichen Ländern und schließlich die Volksdeutschen aus Ostpreußen, Schlesien und Böhmen.

Für sie alle bedeutete es, Pferde vor den Wagen wieder mal zu spannen, Sack und Pack, Frauen und Kinder auf die Pferdezüge drauf zu laden, Hab und Gut zu hinterlassen und abzufahren. Vielzählige solche Flüchtlingszüge fuhren damals von überall in Richtung Mutterland Deutschland ab.

In einem dieser Züge fuhr Vaters vierköpfige Familie mit und die vierköpfige Familie seiner Schwester ebenfalls. Der fünfte Kopf ihrer Familie - ihr polnischer Retter und Kleinfunktionär - hatte sich inzwischen ins sowjetische Gefängnis hineinfunktioniert und war damals abwesend sowie blieb es für immer danach. Die Schwester hatte eine achtzehnjährige Tochter sowie einen siebzehnjährigen und einen zehnjährigen Söhne.

Die letzte nach all diesen Katastrophen immer noch bestehende Bastion - das Stadthaus ihres Vaters, des deutschen Kolonisten und des von allen gebrauchtes Brot mal anbauenden Bauern - musste zurückbleiben. Auch das von dem Urgroßvater, von dem Großvater und von dem Vater gegründete und aufgebaute Prischib selbst blieb mit seiner evangelischen Kirche, mit dem Kirchhof und mit der Familiengrabstätte, mit seiner Realschule, in der alle aus der Familie ihre Ausbildung begonnen hatten oder beginnen sollten, und mit vielem-vielem mehr zurück.

Alles, was in hundertvierzig Jahren von ihnen als deutschen Kolonisten als ein Stück ihrer Heimat aufgebaut worden war; alles Hab und Gut, welches niemand und nie mitnehmen kann; alles blieb zurück und ging nunmehr für immer verloren.


Der Partisanenkrieg und die ersten Verletzungen
oder über die Schädlichkeit und Nützlichkeit des Selbstgebrannten


Der erste Fluchtsprung brachte sie in die Westukraine, wo sie überwintern sollten. In den Wäldern herum wimmelte es von Banditen, die sich "Partisanen" nannten. Dies waren die der Armee von Batjko Machno ähnlichen Formationen, aus den Menschen bestehend, welche weder auf der sowjetischen, noch auf der deutschen Seite in den Krieg wollten. Sie verkrochen sich in den Wäldern und erklärten ihre Souveränität über diese Gebiete. - Die Freischärler wie Robin Hood. Oder Batjko Machno eben.

Nun wollen aber auch die Freischärler fressen und auch sie frieren im Winter. Um ihre unzähligen Banden zu versorgen, überfielen sie eigene Dörfer, aus denen sie selbst stammten. Sie nahmen den Dorfeinwohnern alles weg, was essbar, trinkbar oder erwärmend war: vor allem selbstgebrannten Schnaps, Filzstiefel und Schaffellmäntel. Diese mehr zivile Überfälle bevorzugten die Freischärler den mehr militärischen und viel gefährlicheren Angriffen auf die deutschen Truppen und Garnisonen.

Eines Nachts kamen sie ins Dorf, wo deutsche Flüchtlinge quartierten. Als die Männer an die Tür der Hütte, in der Vaters Familie untergebracht worden war, mit Schreien "Aufmachen, ihr Faschisten!" hämmerten, sprang der Vater in Unterwäschen, so wie er war, aus dem Bett und warf seinen großen Körper durchs Fenster hinaus, den Kopf mit Armen deckend und den Fensterrahmen samt aller Glasscheiben brechend. Direkt vor dem Fenster lag eine riesige, den ganzen Hof bedeckende Schneeverwehung aufgetürmt. Der Vater bohrte sich nach einem kurzen Anlauf in die steile Schneewand hinein und schaufelte den Schnee noch mit der freien Hand über die ihn verschluckte Stelle.

Seine von Glasscherben zerschnittenen Arme bluteten, und er hoffte nur, schnell genug gewesen zu sein und keine sein Versteck verratenden Blutspuren hinterlassen zu haben. Zum Glück stöberte es immer noch kräftig auf dem Hof, und es verwischte schnell alle Spuren. Er konnte die Mutter und die Kinder im Hause vor Angst schreien deutlich hören, während die Banditen das Haus durchwühlten, nach ihm und nach ihrer Beute suchend und fluchtend:

- Dieses Faschistenschwein ist uns doch noch durchs Fenster entwischt!

Dann spürte der Vater, wie die Banditen oben auf der Schneeverwehung über ihn trabten und fast auf ihn traten. Gott sei Dank, diese hatten es eilig vor Angst, von Soldaten der deutschen Garnison erwischt zu werden. Bald wurde es ruhig und still im Hof und im Hause.

Der Vater, im Schnee liegend, wartete sicherheitshalber noch einige Zeit und kroch dann ins Haus zurück. Die Mutter holte eine versteckte Flasche Selbstgebrannten, rieb damit kräftig seine Füße und Hände ein und behandelte blutende Schnittwunden überall an seinen Armen. Kurz überlegt, entschieden sie für den Fall, wenn die Banditen wiederkommen, dass der Vater die restliche Nacht im Dachraum verbringt. Die Mutter gab ihm zur Erwärmung einen alten Mantel und die Reste des von Banditen nicht gefundenen Selbstgebrannten mit. Sie selbst stopfte das Fenster mit Kissen, beruhigte die Kinder und legte sich mit ihnen ins Bett. Die Mutter war im achten Monat schwanger.


Die Folgen von Panzerschlachten
oder darüber, wie rettend das Unpassendste sein kann


Kurz danach brach der Flüchtlingszug weiter in Richtung Polen auf. Die Haltepausen wurden immer kürzer, denn die Front rückte immer näher, und man konnte schon schwere Kanonaden hinter sich hören. Das war der Februar 1944. Auf dem Weg bekam die Mutter die Wehen, und der Vater musste mit ihrem Pferdewagen in ein an der Straße liegendes polnisches Dorf ausweichen. Der ganze Zug zog an ihnen vorbei weiter.

Sie hielten in einer kleinen Bauernhütte an, und hier brachte die Mutter den zweiten Sohn zu Welt. Er kam sehr ungelegen, aber wer hätte schon die historischen Ereignisse so genau voraussehen können! - Schwanger war die Mutter ja noch vor der entscheidenden Panzerschlacht bei Kursk geworden.

Der Säugling wurde nach der Übernachtung von der Mutter eingewickelt, zu den beiden anderen Kindern unter eine Daunendecke gesteckt, und sie fuhren weiter, um ihren Flüchtlingszug einzuholen. Sie fuhren fast den ganzen Tag und sahen diesen bald von weitem her.

Doch mit dem Zug stimmte etwas nicht. Als sie später näher kamen, erblickten sie ein Bild des Grauens: überall, der Straße entlang, sahen sie zerquetschte Überreste von Fuhren und Pferden, im weißen blutgetränkten Schnee liegend... Auf den beiden Straßenseiten lagen umgekippte und zu Brüche gegangene Wagen und ihre um sie herum zerstreute Ladung. Es war nur ein schmutziger, schwarz-roter Riesenfleck auf dem endlosen weißen Schnee geblieben, und keine Menschenseele kam ihnen entgegen.

Die Mutter zog schnell eine Decke über die Köpfe der erschrocken gelähmten Kinder. Der Vater trieb schnell die Pferde weiter voran. Schon in der Dunkelheit erreichten sie ein anderes Dorf, und sie fanden dort ihren nun mehr als halbierten Flüchtlingszug. Sie erfuhren von den immer noch unter Schock stehenden Menschen, was ihnen passiert war.

Sie waren von einer russischen Panzerkolonne überrascht und überrollt worden, die an irgendeiner Stelle die Front durchgebrochen zu haben schien und jetzt hinter der Frontlinie wild herumgewühlt hatte. Die Russen hatten von Deutschen ihre Panzerzangentaktik bei blitzschnellen Frontdurchbrüchen und das In-die-Zange-Nehmen von ganzen Armeen anfangs des Krieges schnell gelernt und am Ende des Krieges erfolgreich verwendet. Die Panzer hatten die Flüchtlinge nicht gejagt. - Sie waren einfach mit Vollgas über den Zug drüber gefahren. Wer es nicht geschafft hatte, den Weg frei zu machen, war auf der Straße plattgewalzt liegen geblieben.

Nachdem die Panzer weg waren, hatten die am Leben gebliebenen Flüchtlinge alle und alles gerettet, was noch zu retten war: Sie hatten die Gefallenen vergruben; diejenigen, die von ihren eigenen Fuhren abgesprungen waren, aber die Fuhren und die Pferde verloren hatten, samt ihrer restlichen Ladung auf die anderen noch ganz gebliebenen Fuhren verteilt und sind weitergezogen.

Der ungelegen geborene Sohn schien doch noch rechtzeitig und gelegen auf die Welt gekommen zu sein, um die ganze Familie zu retten. Er selbst wurde dabei total vergessen, weil er so erstaunlich ruhig war und den ganzen Tag keinen Ton von sich gab. Die Mutter hoffte inzwischen heimlich, dass ihr Neugeborener schon für immer sanft entschlafen sei und - Gott sei Dank! - diesen zukunftslosen Strapazen dadurch entkam.

Doch als sie ihn auswickelte, um ihn zu waschen und zu stillen, beanspruchte er mächtig seinen Platz unter der Sonne und schrie plötzlich so ohrenbetäubend, dass die heimlichen Gedanken der Mutter gleich und für immer spurlos verflogen, und die einfache Mutterfreude deren Stelle einnahm.

"Schließlich schützte uns Gott bisher, und es geht uns noch verhältnismäßig gut: Die Familie ist heil und zusammen, und solange der Vater bei der Familie ist, kann uns auch wieter wie auch bis jetzt nichts passieren" - beruhigte sie sich selbst.


Die zweite Front und die Selektion von Flüchtlingen
oder darüber, was es kostet ein Arier zu sein,
und was es bringt zu preußischen adligen Offizieren zu gehören


Nach einem mehrmonatigen, ununterbrochenen Marsch gelangen sie in Litzmannstadt in Westpolen. Die Front blieb doch irgendwo weit weg hinter ihnen, und sie konnten sich eine Ruhepause gönnen. Alle Flüchtlinge wurden in einem Sammellager untergebracht und verpflegt.

Die Kriegsereignisse entwickelten sich immer schneller und immer dramatischer. Im Juni landeten die Westalliierten in der Normandie. Die preußischen adligen Offiziere vermasselten Ende Juli die nächste ihrer mehreren misslungenen Attentaten auf ihren unzerstörbaren Führer, obwohl manche von ihnen den Spruch "Was immer du tust, tue es richtig" auf ihrem Wappen haben sollten.

Irgendetwas fehlte ihnen immer: Mal fehlte den über Armeen verfügenden Generälen ein funktionierender Zünder, mal - wenn sich ein Zünder doch fand und sogar bereit war zu funktionieren - fehlte ihnen die Zeit, die dann wiederum dem Führer fehlte, diese durch den Zeitzünder vorgegebene Wartezeit abzuwarten und endlich zu fallen. Die praktisch ohne jegliche Zeitverzögerung explodierenden Handgranaten fehlten offensichtlich sowieso in Berlin, denn der von solchen Missständen verzweifelte Hauptverschwörer traute den Bombenzeitzündern nicht mehr, musste an der russischen Front eine Handgranate finden und mit dieser doch erfolgreich - allerdings sich selbst - in die Luft jagen.

Den Verschwörern vom zwanzigsten Juli fehlte es außerdem gravierend an Personal. Einer und derselbe musste die bei den Engländern angeschaffene und mit der preußischen Sparsamkeit berechnete Bombe - ebenfalls mit einem Zeitzünder - dem Führer unter den Hintern in seiner "Wolfschanze" schieben und gleichzeitig die Verkehrungen zum Machtergreifen in Berlin treffen, was sogar den Adligen bekanntlich - rein physikalisch - immer verboten blieb.

Vor allem aber fehlte den preußisch-militärischen Adligen anscheinend die Entschlossenheit und Selbstlosigkeit von ganz bürgerlich-zivilen muslimischen Selbstmordattentätern, welche heutzutage die Bomben ohne den Zeitzünder verwenden, welcher das Leben des Sprengmeisters zu retten hat.

Jedenfalls schafften es die preußischen Adligen durch ihre Unfähigkeit nicht, den Krieg rechtzeitig zu beenden und dem Vater damit eine große Hilfe zu leisten.

Das abgemagerte und ausgeblutete deutsche Heer brauchte im Sommer 1944 dringend frisches Kanonenfleisch und Kriegsblut, das sogar nicht mehr so arisch sein durfte. Die Flüchtlingsfamilien aus deutschen Kolonien Russlands wurden schneller Hand eingebürgert, und ihre Männer durften somit sogar als "echte Arier" in den Krieg ziehen.

Der Vater - blond, blauäugig, großgewachsen und inzwischen sechsunddreißig Jahre alt - wurde im September 1944 mit vielen anderen Kameraden aus Prischiber Gegend nach einem zu dieser Zeit bereits nicht mehr auf der Ftreiwilligkeit basierenden Einberufungsverfahren sogar in die Waffen-SS als Soldat einberufen. Ihm half bei diesem Verfahren weder seine Augenkrankheit, die sein Gesichtsfeld einschränkte und ihn nachtblind machte, noch seine angebliche Plattfüßigkeit, die er zu simulieren versuchte. Die Rekruten wurden in den Zug gesteckt und zu einer Waffen-SS Militärschule in Bayern abtransportiert.

Die Mutter mit drei Kindern blieb mit den anderen Flüchtlingsfamilien in Polen, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was jetzt auf sie zukommt. Vaters Schwester mit zwei Kindern war auch in diesem Lager, obwohl sie mit einem anderen Flüchtlingszug ankamen. Ihr älterer Sohn wurde auch einberufen, allerdings zum Dienst bei dem deutschen Kommandanten.

Zur Erntezeit im Herbst kamen Bauern aus Alt-Deutschland herüber, um nach Arbeitskräften zu suchen. Die Schwester, deren Familie aus zwei vollen und einer halbwüchsigen Arbeitskraft bestand, wurde nach diesem Aussortieren von einem Bauern nach Deutschland mitgenommen.

Die Mutter mit drei kleinen, pflegebedürftigen Kindern blieb bis auf Weiteres im Lager. So schafften es der Vater und seine Schwester endlich nach Deutschland zurückzukehren. Zwischen dem Vater und seiner Familie lag jedoch eine fast tausend Kilometer weite Entfernung, die deutsch-polnische, wenn auch vorübergehend abgeschaffte Grenze, das Ende des Krieges und noch viele Jahre Ungewissheit.


An zwei Fronten
oder darüber, wann es ungünstig ist
gleichzeitig zu zwei Völkern zu gehören


Nachdem ihre Männer in den Krieg einberufen worden waren, blieben die Frauen, die Kinder und die Alten alleine im Flüchtlingslager in Polen. Sie warteten nun auf ihr Los. Sie waren zwar immer noch auf dem Territorium des Dritten Deutschen Reiches, welches sich aber tagtäglich zu seinem Untergang beschleunigte.

Die Amerikaner rückten im Westen auf den Vater zu, bekamen aber unerwartet die von ihnen sehr geschätzten und nach dem Krieg in ihre eigene Armee schnellst eingeführten Kampfqualitäten der Waffen-SS in Ardennen zu spüren. Diese mächtige Bremse verschaffte dem Vater etwas mehr Zeit für seine Einsatzvorbereitung.

Daraufhin verpflichteten sich die Russen im Osten, dem Hilferuf der Amerikaner entsprechend, ihre noch nicht ganz vorbereitete und dadurch Tausende ihrer Soldatenleben gekostete Offensive in Polen frühzeitig zu starten und den Amerikanern somit aus der Patsche zu helfen sowie Mutters Ungewissheit zu beenden und ihr Schicksal zu besiegeln.

Bald war ihre Westodyssee für die von Deutschen scheinbar vergessenen deutschen Flüchtlinge vorbei. Ohne einen Schritt machen zu müssen, gelangten sie aus dem Dritten Deutschen Reich nach neu entstandenes und zunächst unter sowjetischer Militärverwaltung stehendes Polen. - Für die deutschen Flüchtlinge aus Russland eine prekäre und verhängnisvolle Lage.

Die Polen mit ihrem übertriebenen Nationalstolz vergaßen und vergaben nie die mehrmalige Aufteilung ihres Landes zwischen Russen und Deutschen in den letzten knapp zweihundert Jahren.

"Sie brachten während dieses Krieges meuchlings und mit gleicher Genugtuung sowohl deutsche als auch russische Soldaten, wenn einer der Soldaten das Pech hatte, irgendwo alleine unter ihnen aufzutauchen." - erzählte mal später die Polen danach nie besonders leidende Vater, er fügte aber gerechtigkeitshalber gleich hinzu: "Man darf es eigentlich den Polen nach der viermaligen Aufteilung ihres Landes zwischen Deutschen und Russen nicht übel nehmen. Jedes Volk hat seine aus der Geschichte entstandenen Bitterkeiten auf seine eigene Art und Weise zu pflegen."

Nun gab es auch ein Volk, welches aus der europ&auuml;ischen Geschichte ausgefallen war, nämlich die nach Russland ausgewanderten Deutschen. Sie waren vom russischen Militärdienst und von den Steuern für mehrere Jahre befreit und somit kaum in die politischen Attentaten sowohl Deutschlands als auch Russlands verwickelt worden. Sie hatten genug zu tun gehabt, um dort in schönen, aber wilden Steppen Südrusslands zu überleben und ihre Existenz und Kultur aufzubauen.

Dieses fein- und tiefhistorische Detail interessierte jedoch damals - wie auch heute noch - kein nationalistisches Schwein sowohl in Russland als auch in Deutschland und in Polen sowie sonst irgendwo auf der Welt. Besonders dann nicht, wenn es sich um irgendwelche Rachefeldzüge oder Entschädigungsforderungen handelt.

Rein technisch oder arithmetisch gesehen waren die aus Frauen, Kindern und Alten, also aus schwächsten Vertretern, bestehenden Familien der Deutschen aus Russland, die jetzt den Hitler-Stalin- bzw. Molotow-Ribbentrop-Pakt [5] verantworten mussten, eine doppelte und dabei leicht zu kriegende Beute für die Polen. Einen Deutschen aus Russland zu erledigen, kam dem Erschlagen eines Russen und eines Deutschen gleich: Zwei Fliegen mit einer Klappe eben zu schlagen.


Die menschlichen Instinkte
oder über die Impfungen gegen Bomben und
über die Vernunft des Überlebens


Die Flüchtlinge bekamen es sofort zu spüren. Ihr Lager wurde mit Stacheldraht umzäunt und von bewaffneten Polen überwacht. Es gab kaum Verpflegung mehr. Jedes Jammern wurde mit makaberen Sprüchen erwidert:

- Wozu braucht ihr Verpflegung? Wir werden euch, Faschistenweiber, sowieso bald erschießen. - scherzten polnische Wachmänner, als sich die Mutter mal bei denen über mangelnde Verpflegung beklagte.

Nach einigen Tagen solcher Schikanen kamen die Lagerfrauen zusammen, um sich zu beraten:

- Die russische Militärverwaltung scheint uns in diesem Durcheinander total vergessen zu haben, und wir haben nur noch eine Chance: Eine von uns muss hinauslaufen und unsere Lage beim russischen Kommandanten melden. - beschlossen sie, und sie begründeten es auch:

- Wir leben deswegen nur noch, weil die Polen vor der russischen Militärmacht Angst haben und ihrer Sache nicht so sicher sind. Das kann uns aber auf Dauer nicht retten.

Diese Feststellung teilte jede der Versammelten. Entscheidungsbedürftig war es nur, wer von ihnen als Gesandte gehen soll, obwohl auch diese Frage von Anfang an klar war. Kaum eine dieser deutschen Frauen sprach richtig Russisch. Die Mutter war die Einzige, deren Smolensker Russisch den besten Passierschein bei jedem russischen Soldaten ersetzen konnte. Sie hatte ihre Dienste als Dolmetscherin und Vermittlerin zwischen den russischen Offizieren und Soldaten und den Lagereinwohnern bereits erwiesen, als das Flüchtlingslager von der Roten Armee "befreit" worden war.

Nur gab es ein Problem: Die Mutter war eher bereit, mit ihren drei kleinen Kindern zusammenzusterben, als sie - wenn auch nur für einen kleinen Moment - aus den Augen zu lassen. Ihr Mutterinstinkt überwog alle anderen Gefühle und jede Vernunft. Es gab auch seit langem schon keine Vernunft mehr in dieser gerade zusammenbrechenden Welt mit Millionen und Abermillionen von Toten, Verkrüppelten, Verwundeten, Verbannten, Vertriebenen und Flüchtigen.

Allein die Tatsache, dass diese entwurzelten, entkrüfteten und vergessenen Frauen und Kinder - diese Staubkörnchen mittendrin in einem gewaltigen Sturm - noch am Leben blieben, ging über jede Vernunft hinaus.


Das ist ein Wunder des Menschenlebens: In Situationen, wo jede menschliche Intelligenz und jede nur von Menschen geschaffene und nur für Menschen geltende Vernunft versagen und keine Hilfe mehr bieten, greifen Menschen auf ihre tierischen Ursprünge zurück - auf die stärksten Naturinstinkte, wie der Selbsterhaltungstrieb oder der noch stärkere Mutterinstinkt, der die Mütter treibt, ihre Kinder tierisch zu beschützen. Und die Menschen überleben oft nur dadurch auf einem meistens so menschenunwürdigen tierischen Niveau. Auf so einem Niveau, dass sie danach selbst daran nicht glauben wollen, wie es überhaupt möglich war zu überleben, ohne mal daran zu denken, ob das Überleben in so einer Situation überhaupt noch einen Sinn ergäbe und vernünftig wäre.


Bei der Mutter war diese ewige Frage über die Hierarchie von Instinkten bereits gel&öuml;st. Sie fand sich schon fast damit ab, dass der Tod nun unausweichlich und damit erlösend sei, und das Einzige, was sie sich noch wünschte und was sie noch bewirken konnte, wäre es, dem Tod zusammen mit den fest umarmten Kindern entgegenzugehen.

Noch bevor die Russen kamen, aber ihre Bomben und Geschosse bereits um die Ohren flogen, hatte es sich in der Praktik gezeigt. Die deutsche Ordnung herrschte noch einigermaßen im Flüchtlingslager und die Kinder mussten den Vorschriften nach in einem Wagen des Deutschen Roten Kreuzes noch geimpft, gewaschen und mit Milch verpflegt werden.

Die Mutter kämpfte wie ein Panther gegen drei Krankenschwestern, welche ihre Kinder zu diesem Zweck in den DRK-Wagen für einige Zeit mitnehmen wollten. Sie wollte nichts von den noch so vernünftigen Argumenten der drei Damen wissen, dass dies alles ihren Kindern zugute gedacht sei. Sie wusste nur eins: Es gibt keine Impfungen gegen Bomben und, sollten diese Bomben kommen, muss sie bei ihren Kindern sein.

Die Krankenschwestern waren gezwungen Hilfe zu holen, um die Mutter zu überwältigen und die Kinder doch zu entführen. Die Kinder kriegten ihre Impfung, Milch und Pflege und blieben über Nacht in dem Wagen. Aber auch danach irrte die Mutter kreischend die ganze Nacht um diesen Wagen herum, bis sie am nächsten Tag die Kinder gesund und munter zurückerhielt.


Der Ausflug zur Kommandantur
oder darüber, wann es günstig ist,
gleichzeitig zu zwei Völkern zu gehören


Diesmal benötigten die Frauen nicht weniger Zeit, um die Mutter zu überzeugen, dass sie auf ihre Kinder besser als auf die eigenen aufpassen würden, solange sie weg wäre. Entscheidend war für die Mutter schließlich ein Hoffnungsschimmer, das Leben ihrer sowie das der anderen Kinder und all dieser Menschen zu retten.

Abends, bei Einbruch der Dunkelheit, setzten die Frauen die Mutter über den Stacheldraht des Zauns hinaus, und das Warten begann. Die Mutter entkam der polnischen Wache am Lager und ging zum Bahnhof, wo sich nach ihren Kenntnissen die russische Kommandantur befand. Den Weg kannte sie: Sie waren schon lange genug in dieser Stadt, und der Vater hatte sich von ihr und den Kindern ebenfalls an diesem Bahnhof verabschiedet, bevor er mit anderen Kameraden in einen Zug gesteckt wurde und der Zug in den Krieg abfuhr.

An diesem Bahnhof versprach sie ihm auf die Kinder aufzupassen und sie heil durch dieses höllisch-kosmische Unheil hindurchzubringen, auch wenn es noch so eine winzig kleine Chance dazu gäbe. Und er versprach ihr sie alle - egal wo sie auch sein mögen - zu finden und zu ihnen aus dem Krieg - egal ganz oder halb, heil oder halbtot - zurückzukehren.

Da die Beiden keine langfristig geltende Adresse hatten, wurde die Adresse von Vaters Schwester in Bensel in Alt-Deutschland für den Briefwechsel und fürs Zueinanderfinden vereinbart. Daher musste diese Adresse, dieser schimmernde Ariadnefaden, wie der größte Schatz aufbewahrt werden.

So schickte die Mutter das am Abschiedstag geschossene Familienfoto an ihre Schwägerin. - Ein einziges, auf diese glückliche Weise erhaltenes Foto aus dem Krieg, welches die gar nichts archivalisches aus dieser Zeit aufbewahrte Familie dann nach Jahrzehnten in Sibirien von der Tante aus Deutschland zurückgeschickt bekam.

Auf diesem Foto wurden sie alle zusammen aufgenommen - alle in ihrer Paradeform. Der Vater in einem Krawattenanzug, über seiner Familie in voller Größe stehend: Ein Adler über seinem Nest, welches er allerdings vorübergehend verlassen muss und deswegen ein Schutzzeichen setzen will. Die Mutter in einem strengen dunklen Kleid, etwas vorne neben dem Vater sitzend und mit ihrem Kopf gerade mal seine Brust erreichend. Der kleinste Sohn auf ihrem Schoss, die Tochter und der ältere Sohn, sich von beiden Seiten an ihre Knie anlehnend. Alle angespannt nach vorne schauend, als ob sie sich bemühen, ihr Schicksal in diesem fernen Vorne zu erblicken...

In der Nähe des Bahnhofs verließ das Glück die Mutter, und sie wurde von einer polnischen Patrouille erwischt.

- Psja krev! Wo sind deine Papiere, und was machst du nach der Sperrstunde in der Stadt? Eine faschistische Spionin! - beschlossen sie, nachdem die Mutter ihnen auf Deutsch etwas zu erklären versucht hatte, und entsicherten bereits ihre Waffen.

"Das ist das Ende..." - blitzte durch Mutters Kopf - "Meine armen Waisenkinder!"

Der Gedanke an die Kinder gab ihr noch etwas Mut weinend auf Russisch, welches die Polen auch einigermaßen verstanden, zu schreien:

- Ich bin Russin aus dem Flüchtlingslager und gehe zum russischen Kommandanten!

Es zeigte Wirkung. Die Männer waren bei den Worten "zum russischen Kommandanten" sofort nicht mehr so entschlossen abzudrücken.

- Willst du dich bei ihm beklagen? - kam die provokative Frage.

Die Männer waren aus derselben Kaserne und gingen zusammen entweder Streife auf der Strasse oder sie hielten Wache am Lager. Deswegen wussten sie es genau, was daran zu beklagen wäre.

- Oh nein! Meine Kinder sind so sehr krank, dass ich das Lager vor Verzweiflung verlassen musste und Herrn Kommandanten um etwas Medizin bitten wollte - erfand die Mutter, vor dieser Sünde zusammenzuckend und innerlich betend:

"Oh Gott! Verzeih mir diese Lüge und behüte meine Kinder vor jeder Krankheit! Ich weiß, dass ich sündige, aber was soll ich sonst tun, um mich und somit meine Kinder zu retten?"

Kurz überlegt sperrten die Polen sie in einen Eisenbahnschuppen ein mit der Absicht den Zwischenfall mit ihrem Kommandeur zu besprechen und eine für die Polen ungefährliche Lösung zu finden.

Die Mutter blieb in voller Dunkelheit und Ungewissheit in einem engen, mit Werkzeugen überfüllten Raum. Sie heulte und jammerte auf Russisch laut und ununterbrochen fast die ganze Nacht durch:

"Mein Gott! Oh mein Gott! Ich wusste es! Worauf habe ich mich nur eingelassen? Was wird jetzt aus meinen Kindern? Sie sind nun ganz allein in diesem Schrecken geblieben und überleben das nie! Ich habe meinen dem Vater angelegten Schwur gebrochen und sie im Stich gelassen. Ewig sei ich vom Gott verdammt!"

- Hey Weib! Was heulst du da drin, und wer hat dich darin eingesperrt? - hörte sie auf einmal eine männliche, russischsprechende Stimme von draußen - Bist du etwa Russin?

- Ja, mein Söhnchen! Ja, mein Brüderchen! Ich bin Russin aus Smolensk! Eine polnische Patrouille hat mich hereingesperrt und wollte mich erschießen. - sprang die durch diese neue Hoffnung beflügelte Mutter auf.

- Na wartet mal, ihr Scheißkerle! Ich zeige euch, wie man hier mit russischen Leuten umzugehen hat! - fluchte der russische Soldat draußen, mit dem Kolben seines Gewehrs auf das Schloss an der Tür donnernd, - Ihr werdet es nie vergessen! Nicht dafür hatten wir unser Blut vergossen, bis wir hierher kamen, dass ihr jetzt unsere Weiber foltert.

Das Schloss fiel. Die Mutter lief hinaus und sah vor ihr im Morgenrot einen jungen Leutnant in russischer Felduniform und mit einem ernsthaft wütenden Gesicht. Die Mutter erzählte ihm alles, aber ohne über ihre ganze Geschichte besonders ins Detail zu gehen. Dass die Polen seit Tagen schon die von Deutschen verschleppten und jetzt nach Hause wollenden Familien aus Russland im Lager festhalten, sie durch ständige Drohungen schikanieren, sich aber sonst um diese Familien gar nicht kümmern und verhungern lassen.

Der Leutnant führte sie zum Kommandanten. In der kürzesten Zeit wurden zwei Polen aus der Streife geschnappt und dem Kommandanten ebenfalls vorgeführt. Sie standen zitternd und stotternd vor dem Kommandanten, während er seiner Wut freien Lauf ließ, die Beiden anschrie und selber diese zu erschießen drohte.

Es stellte sich heraus, dass die Flüchtlingsfamilien der polnischen Zivilverwaltung überlassen worden waren mit dem Befehl diese bis zu ihrer Repatriierung einzuquartieren, aber nicht gleich hinter den Stacheldraht zu stecken sowie sonst auch wie sowjetische Bürger zu behandeln, also zu versorgen und zu schützen.

In der Hoffnung, dass die Russen ohnehin viel zu tun hatten und diese Flüchtlinge gleich vergessen würden, was sich - wie die Geschichte zeigte - auch bewahrheitete, ignorierten die Polen diesen Befehl einfach, und sie behandelten die Flüchtlinge so, wie es ihnen danach war.


Die Reise nach Sibirien
oder darüber, wie es für die Menschen ungünstig ist,
auf die Wege von großen historischen Ereignissen und
unter die Räder der Weltpolitik und der Weltgeschichte zu geraten


Durch Mutters Abenteuer kam diese polnische "Verschw?rung" jetzt ans Tageslicht. Die Mutter wurde ins Lager zu ihren wohlerhaltenen Kindern gebracht, wo sie dies alles ihren Komplizen erzählte. Jetzt, wo der russische Kommandant die Gelegenheit selbst in die Hand nahm, ging alles rasch.

In den nächsten Tagen wurden die Flüchtlinge nun von russischen Soldaten - eher vor polnischen Übergriffen - bewacht. Bald kam ohne große Filtrierung - denn es wäre ja auch schwierig den Kindern und Frauen etwas Verbrecherisches zuzuschreiben - die pauschale Repatriierungsentscheidung allesamt nach Sibirien zu deportieren.

Sie marschierten zu demselben Bahnhof und wurden in Viehwaggons vollgestopft. - Offensichtlich war es das einzige in dieser Zeit den Verantwortlichen auf allen Frontseiten als angemessen erscheinende Personenverkehrsmittel für die Verschiebung und Verschleppung von unermesslich und unpersönlich gewaltigen Menschenmassen.

Der Verschleppungsviehzug fuhr in Richtung Osten ab.

Ihr Leben und das ihrer Kinder waren zunächst gerettet, und der Krieg als solcher - mit Amok laufenden Bomben und Panzern - war somit für sie vorbei. Der mehrmonatige, unbeschreibliche Leidensweg führte nach Sibirien zu ihren seit Beginn des Krieges dorthin deportierten Landsleuten von überall aus deutschen Ex-Kolonien in Ex-Russland. So gehörten sie zu zweihunderttausend Deutschen aus der UdSSR, vor allem Frauen, Kinder und Alten ohne ihre zum deutschen Militärdienst einberufenen Männer, welche auf ihren Fluchtwegen von der Roten Armee überrollt worden waren und dasselbe Schicksal erlitten hatten.

Sie fuhren lange und beschwerlich mit vielen langen Zwischenstopps, mit Hunger, Kälte, Krankheiten und vielen - bis zu dreißig Prozent von zweihunderttausend Verschleppten - unterwegs Gestorbenen. Der Krieg im Westen ging zu Ende. Der Sieg über Deutschland wurde unter den Alliierten mit der Abmachung besiegelt, den letzten aus der Dreierachse - Japan - nun gemeinsam auf die Knie zu zwingen.

Für die Russen bedeutete es ein Logistikwunder zu vollbringen: Ihr ungeheueres Truppenaufgebot von der sich erledigten Westfront über zehntausend Kilometer in den Osten hinüberzubringen. Alles durch "das Nadelohr" namens "Transsibirische Eisenbahnmagistrale", das zu dieser Zeit durch den irgendwo durch die Endlosigkeit dieser Magistrale kriechenden Viehzug mit der Mutter und mit den Kindern "verstopft" war.

Ihr Zug wurde weggefegt und musste auf irgendwelchen Abstellgleisen so lange warten, bis die Japaner durch diesen gewaltigen Verkehr von Truppen, Maschinen und neuerdings Atombomben anstatt der bereits als Siegesmethode veralteten Feuerstürmen in deutschen Städten nach ihrer Bombardierung von Engländern und Amerikanern ebenfalls erdrückt wurden.

So fuhren sie nach dieser langen Abstellpause direkt in den sibirischen Winter hinein. Der Viehzug kam im voll verschneiten Nowosibirsk bei Frost unter minus dreißig Grad an. Hier wurden die Deportierten und Verschleppten noch einmal aussortiert und getrennt. Einige wurden in der Stadt als Arbeitskraft für Industriewerke und Fabriken abgeladen, die Anderen - auf die umliegenden Dörfer verteilt.

Die Mutter mit ihren drei Kindern kam zusammen mit den restlichen Familien, mit denen sie seit zwei Jahren auf diesem langen Bogen von Prischib über Polen nach Sibirien unterwegs war, in einen etwa hundert Kilometer von Nowosibirsk entlegenen Schweinebetrieb. Sie wurde den Schweinen als Bedienstete zugeordnet. Sie wurden in einer Hütte direkt an der Schweinefarm mit zwei anderen Familien untergebracht. Ein Jahr später wurde die Familie in die Hütte am Friedhof umgesiedelt, in welcher die Mutter nun für den Vater weiter beten und auf ihn weiter warten durfte.

* * *


[1] Todeskampf

[2] heutige Stadt Donezk in der Ukraine

[3] ein Nebenfluss von Don

[4] Franz Fabian. "Steuben. Ein Preuße in Amerika", Vision Verlag, Berlin, 1996

[5] Der am 23 August 1939 im Kreml geschlossene, deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, zu dem das geheime Zusatzprotokoll über die Aufteilung Polen gehörte


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